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Sport: Dramatiker im Sturm

Arsenal und Angreifer Henry haben nur eine große Schwäche – es fehlt der wichtigste europäische Titel

Thierry Henry wird sich heute Abend gegen den FC Bayern (20.45 Uhr, live in Sat.1) wieder die Stutzen bis über die Knie ziehen, aber das hat nichts mit der Kälte im Olympiastadion zu tun. Es ist eine dem englischen Fußballfan etwas suspekte, modische Marotte und Teil des Gesamtkunstwerks des Stürmers. Henry ist sozusagen der Gegenentwurf zum nüchternen, sachlichen und nicht gerade an Mode interessierten Roy Makaay. Die Begabung des Franzosen in Reihen von Arsenal London wird nur von seinem Sendungsbewusstsein übertroffen.

Vornehm blasiert wie ein Großstadt- Dandy auf Besuch in der Provinz, steht er gerne an der linken Außenlinie, um dort auf den Ball und das Scheinwerferlicht zu warten. Hat der Neffe eines französischen 400-m-Läufers erstmal Fahrt aufgenommen, lassen die Abwehrreihen schnell die Hoffnung fahren. „Es gibt weltweit keinen Torjäger, der Geschwindigkeit und Ballfertigkeit so kombiniert“, sagt der ehemalige Arsenal-Angreifer Alan Smith über seinen eleganten Nachfolger. Wenn ihm brutale Kunstbanausen frech Platz und Raum zur freien Gestaltung wegnehmen, verliert der Mann aus dem Pariser Vorort Les Ulis den Spaß.

Sehr gute Spieler prägen ihre Mannschaft, großartige verkörpern sie. Die beispiellose Offensivstärke von Arsenal entspringt sicher dem Kollektiv der Könner – Henry, 27 Jahre alt, ist jedoch die Fleisch gewordene Idee von Wengers Team. Eleganz und Schönheit seines Spiels entsprechen genau der seines Vereins und auch seinen persönlichen Schwächen. Schwächen? Sagenhafte 131 Tore in 190 Ligaspielen hat er für die Londoner seit dem August 1999 erzielt, in Uefa-Pokal und Champions League traf er in 67 Spielen 36-mal. Trotzdem ist gerade die rätselhafte Erfolglosigkeit von Arsenal in der Champions League die Geschichte seines persönlichen Scheiterns. In Europa rücken die Gegner anders als auf der Insel nicht bis zur Mittellinie auf, die Mannschaften stehen kompakter. So kommt Henry seltener zur Geltung, und obwohl er als Achtjähriger einst in der Jugendmannschaft von Les Ulis lernte, sich gegen viel ältere Afrikaner, die mit falschen Pässen spielten, durchzusetzen, steht noch immer ein Fragezeichen hinter seiner Widerstandsfähigkeit auf der ganz großen Bühne. In den entscheidenden Viertelfinalspielen seines Vereins, 2001 gegen Valencia und 2004 gegen Chelsea, ging er unter. Weiter ist Arsenal nie gekommen. Weil auf dem Kontinent meistens der unter Flugangst leidende Dennis Bergkamp fehlte, war ein Ausfall von Henry auf dem Platz gleichbedeutend mit dem Aus. Das soll dieses Jahr endlich anders werden.

„Titi“, wie sie Henry in der Arsenal-Kabine rufen, ist dazu entschlossen: „Ich bin davon besessen, der Geschichte meinen Stempel aufzudrücken, weil Arsenal mein Paradies ist.“ Sein Bruder Willy hat einmal erzählt, dass der mit einem englischen Model verheiratete Henry bei Besuchen in Les Ulis ohne Allüren auf dem Sofa schläft, doch in England reibt man sich zunehmend an seinem Pathos. „Er spricht im typischen Stile eines französischen Fußballers: eine Ansammlung von Platitüden, vorgetragen im Tonfall eines gelangweilten Philosophen, der zeitlose Wahrheiten aufwärmt“, hat sich der „Observer“ beschwert.

Selbst Abstauber gegen weniger leistungsstarke Verteidiger wie die von Crystal Palace feiert Henry mittlerweile mit dramatischen Gesten, als hätte er gerade einen sechsköpfigen Drachen erschlagen. Der Sohn eines Einwanderers von den französischen Antillen mag ein unverbesserlicher Egozentriker sein, ein aufrichtiger Fußballfan ist er trotzdem. Er beschäftigt sich intensiv mit den europäischen Ligen. Sein Verhältnis zum Spiel wird zudem von einem veränderten Bewusstsein geprägt. „Früher habe ich gemacht, was ich wollte. Jetzt mache ich, was das Spiel von mir verlangt“, sagt er über seinen Karrieresprung unter Trainer Wenger.

Auch im Falle des Scheiterns wird Henry Arsenal treu bleiben – trotz Angeboten vom FC Chelsea und von Real Madrid. Auch das ist konsequent. Denn vielleicht werden beide, der launische Künstler und sein Verein, gerade deshalb unsterblich, weil sie nie den wichtigsten europäischen Titel holen.

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