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Alte Liebe rostet doch. Auf dem Hauptfriedhof Altona gibt es ein spezielles Grabfeld für HSV-Fans.

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Hamburger SV: Eine alte Liebe rostet

Vor einem Jahr zitterte ganz Hamburg mit dem HSV. Mittlerweile hat sich Lethargie in der Stadt breitgemacht. Und das Gefühl: Der Klub hat es nicht anders verdient.

Vor einem Jahr taumelte der HSV unter Mirko Slomka und noch ohne die inzwischen entzauberte Hoffnungsfigur Dietmar Beiersdorfer dem Abstieg entgegen. Und plötzlich machte die ganze Stadt mobil. Die Zeitungen und Hörfunksender riefen zu Aktionen auf, da war der Fanmarsch zum Trainingsplatz. Es gab rund um den Klub viel mehr Diskussionen, weil im Juni 2014 ja auch noch der Richtungsentscheid für oder gegen die Ausgliederung der Profiabteilung ausgefochten werden musste. Es war ein Klub im Ausnahmezustand, einer, an dem jeder Anteil nahm, an dem sich jeder rieb. Den man lieben oder hassen konnte.

In diesen Apriltagen 2015 ist die Lage anders, „egaler“ sozusagen. Die Fangruppe „Chosen Few“ ist schon seit Saisonbeginn nicht mehr im Stadion; sie hatte die Nase voll von der fortschreitenden Kommerzialisierung im Klub und der Beschneidung der Fanrechte. Durch ihren Weggang gibt es weniger Stimmung und weniger Mobilisierung. Beim Friseur um die Ecke oder beim Mittagstisch ist der HSV immer noch ein Thema. Aber eher als Witz. Selten nur wird leidenschaftlich gestritten und mitgefiebert. Der Tenor ist: Dieser HSV hat den Abstieg verdient.

Der Wechsel von Zinnbauer zu Knäbel hat viele verstört

Vielleicht sehen das sogar einige Spieler so. Zumindest lassen ihre Aussagen das vermuten. Heiko Westermann sagte jüngst, als der HSV noch von Joe Zinnbauer trainiert wurde, es sei sehr schwer für eine Mannschaft, wenn immer neue Trainer mit neuen Spielideen kämen. Der HSV hatte fünf Trainer, bis Bruno Labbadia am Mittwoch kam. Jeder hatte eine andere Vorstellung von Fußball. Thorsten Fink wollte Ballbesitzfußball. Bert van Marwijk wollte, dass die Mannschaft kompakt steht. Unter Mirko Slomka galt schnelles Umschalten als Maß der Dinge. Joe Zinnbauer versuchte viel, hatte Energie und motivierte gut, hatte aber kein erkennbares System. Peter Knäbel auch nicht in seinen zwei Spielen. Wie sollen sich die Spieler da zurecht finden? Diese Frage ist nicht einmal als Ausrede für die Profis gemeint. Es ist eine, die sich in der Szene, unter ehemaligen Trainern des HSV und Spielerberatern häufig gestellt wird. Es ist eine, die grundsätzlich gegen diesen Verein spricht.

Vor allem der Wechsel von Zinnbauer zu Knäbel hat viele verstört – das Ergebnis und die schnelle Korrektur nach null Punkten, 0:6 Toren, 1:19 Chancen waren ein reines Fehlereingeständnis von Dietmar Beiersdorfer. Labbadia ist vor allem deswegen schon da, weil es mit Knäbel einfach nicht ging, und weil Tuchel sich anders entschied.

Verheerend für die Hamburger Olympia-Bewerbung

An einem piekfeinen Ort verläuft die Diskussion über den HSV recht gediegen. Der Erste Bürgermeister sitzt zwei Tage vor seiner Wiederwahl auf einem weichen Ledersessel im Business Club an der Elbchaussee mit Blick auf die Köhlbrandbrücke. Die Lichter der Großstadt leuchten, die Hafenkräne im Süden verrichten quietschend und bollernd ihre Arbeit. Es soll über die Olympischen Spiele und Paralympics in Hamburg 2024 diskutiert werden, was in der Hansestadt für gewöhnlich Behaglichkeit und wohlige Selbstzufriedenheit erzeugt. Für einen Moment verschwindet jedoch das zufriedene Lächeln aus Olaf Scholz‘ Gesicht. Er behauptet: „Ich mache mir schon Sorgen, weil es einfach wichtig ist, dass beide Klubs die Klasse halten. Jeder Hamburger leidet mit dem HSV und St. Pauli.“

Mehr als das – der Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) Henning Völpel verweist anderntags auf die Bedeutung der Profiklubs für die Sportstadt Hamburg und ihre olympischen Ambitionen: „Ein Doppelabstieg des FC St. Pauli und des HSV hätte für die Positionierung und Profilierung Hamburgs erhebliche Folgen, gerade im Hinblick auf die Bewerbung.“ Das klingt gleichermaßen gelehrt und alarmistisch, zumal, bei aller aktuellen Schwäche und Aussichtslosigkeit, ein möglicher Aufstieg ja nun nicht auf ewig ausgeschlossen wäre. Aber jeder hat eben eine Meinung zum Fußball.

Wird Labbadia zum Retter?

Abstieg? Davon mag Edel-Fan „Klößchen“ alias Andreas Kloß, 44 Jahre alt, immer noch nicht ausgehen. Klößchen sieht fast jedes Training, er sitzt auch in den Pressekonferenzen, obwohl er kein Journalist ist. Der Allesfahrer ist natürlich auch nach Rotenburg südwärts gereist, hat den HSV an das Flüsschen Wümme und den dortigen Trainingsplatz mit Blick auf den Bahnhof begleitet – dorthin hat Bruno Labbadia seine Profis verschifft, um sie kennenzulernen und halbwegs ungestört zu trainieren. Trotzdem wird aus Rotenburg eifrig gepostet und getwittert. Der HSV ist ein sehr öffentlicher Verein. Das ist Teil des Problems. Die Reporter, die täglich dabei sind – sie nennen sich selbst „dailys“ – sind eine verschworene Gemeinschaft. In der Selbstwahrnehmung spielen sie auf dem gleichen Feld wie die Profis. Sie sind wichtig. Sie stellen den HSV-Verantwortlichen respektlose, ja unverschämte Fragen. Wäre der HSV abgeschirmter oder uninteressanter, wäre der HSV der SC Freiburg, könnte ein Trainer hier arbeiten wie Christian Streich – dann gebe es einen großen Teil der Probleme nicht.

Doch schon als Labbadia am Mittwoch vom Trainingslager in Rotenburg erzählte, ist den HSV-Reportern klar, wohin ihre Reise gehen wird. Natürlich sind sie auch da am Ort, wo sich der HSV fernab der Heimat auf die Partie am Sonntag in Bremen vorbereitet. „Klößchen“ findet es gut, dass sich sein HSV nicht einschließt. Er ist kritisch, er weiß, was schief gelaufen ist. Aber zumindest seine Hoffnung stirbt zuletzt. „Der HSV ist in Rotenburg angekommen!“, twittert @Kloesschen1887. Der nächste Post ist eine Auflistung der ersten sechs Labbadia-Spiele 2009: Vier Siege, zwei Unentschieden. Mit dieser Bilanz würde der vierte HSV-Trainer in dieser Saison wirklich zum Retter. Aber was haben Ziffern und Punkte von vor sechs Jahren mit der schrecklichen Lage heute zu tun?

„Irgendwann endet auch der größte Rückhalt“, hat Michael Oenning vor einigen Tagen bei „Sky“ gesagt. Der ehemalige HSV-Coach (März bis September 2011) arbeitet inzwischen als Fernsehexperte. Sein Kollege Lothar Matthäus hat noch eine andere Floskel ins Spiel gebracht: „Der HSV steigt ab, weil er sein Glück aufgebraucht hat.“ Es wäre der erste Abstieg aus der Bundesliga. Dino Hermann würde eingemottet, die Uhr bliebe stehen, würde abmontiert. Aber wäre das das größte Drama? „In der zweiten Liga würden wir wenigstens mal wieder gewinnen“, sagte vor zwei Wochen ein Fan beim Training. Weiter oben im Norden freut man sich schon auf das neue Derby – KSV gegen HSV. Aber was die Leute in Kiel denken, muss erst einmal keinen Hamburger kümmern, noch nicht.

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