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Sport: Einer hütet die Normalität

Jens Lehmann hat sich schnell in die Rolle als Nummer eins im deutschen Tor eingelebt – Oliver Kahn dagegen wirkt teilnahmslos

Vielleicht ist es Zufall: Jens Lehmann, die neue Nummer eins im deutschen Tor, kommt als Erster die Stadiontreppe herunter. Die Treppe führt direkt zum Spielfeld, auf dem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Genf trainiert. Nach ihm kommt ein Dutzend Spieler, erst sehr viel später, mit gebührendem Abstand, folgt Oliver Kahn. Es ist der erste Tag, den Jens Lehmann auch ganz offiziell als deutscher WM-Torwart begeht. Oliver Kahn, die einst als unantastbar geltende Nummer eins, ist von Bundestrainer Jürgen Klinsmann ins zweite Glied gestellt worden. Bei der WM wird der Münchner auf der Ersatzbank seinen Platz finden. Bis dahin wird es diese Bilder noch oft geben. Lehmann vorneweg, Kahn hintendran. Aber wann werden sie Normalität?

Bis vor kurzem gab es im Torhüterleben des Oliver Kahn nur die Normalität, dass er erste Wahl war. Alles andere in seinem Beruf „war ja Wahnsinn“, wie er gern erzählt. Der Druck, die Anspannung, die Fragen der Reporter, die Lobeshymnen, die Kritik, alles Wahnsinn. Sein „weiter, weiter, immer weiter“ war so etwas wie der Refrain seiner Lebensmelodie. Aber was ist jetzt? Wie macht er weiter? Kahn, der blonde Held vergangener Tage, der Endlos-Antreiber, der immer glaubte, Spiele allein entscheiden zu müssen, der große Anführer, muss eine neue Rolle finden. Kahn sagt, dass er sich wohl fühlt. Er sieht sich als „Integrationsfigur“, als eine Art Übervater, der mit seiner Erfahrung „eine Menge dafür tun kann, dass wir das große Ziel verwirklichen“. Wer ihn, den großen Ehrgeizling, auf dem Trainingsplatz beobachtet, dem kommen allerdings Zweifel daran, dass Kahn über Nacht zum großen Team-Versteher wurde. Klinsmann hat kürzlich über die neue Situation gesagt: „Der Olli hat eine große Ausstrahlung. Wenn er jemanden aufmuntert, dann ist das für uns ein Trumpf.“ Ja, wenn.

Auf dem Trainingsfeld geht Kahn Lehmann aus dem Weg. Nicht einmal sieht man beide in ein Gespräch verwickelt. Während Torwarttrainer Andreas Köpke die Nummer drei im Tor, den Stuttgarter Timo Hildebrand, bearbeitet, laufen sich Kahn und Lehmann warm. Dabei bringen sie es bisweilen auf eine Entfernung von 200 Metern zueinander. Beim Dehnen kommen sich beide gewagt nahe. Kahn stützt sich am linken Pfosten ab, Lehmann am rechten. Es sind die Pfosten ein und desselben Tores. Sie dehnen sich dann wortlos. Und als Köpke schließlich Lehmann zwischen die Pfosten zum Torschusstraining bittet, dreht Kahn ab und blickt in die leeren Ränge des Stadions. Er wirkt mitunter teilnahmslos.

Jens Lehmann hat nach dem ersten Training als Nummer eins eine prächtige Laune. Am Sonntagabend erst war er zur Nationalmannschaft gestoßen, nachdem er ein paar Tage bei seiner Familie in London die Finalniederlage in der Champions League mit Arsenal verarbeitet hat. Einige Nationalspieler hätten ihn darauf noch einmal angesprochen, Oliver Kahn war nicht darunter. „Der Jens wirkt nicht so, als trage er dieses Erlebnis noch mit sich herum“, sagt Klinsmanns Assistent Joachim Löw zu der frühen Roten Karte für den Arsenal-Torwart. „Bei uns ist dieses Thema aber vom Tisch“, sagt Löw.

Hier, bei der Nationalmannschaft, „habe ich ein neues Ziel“, erzählt Lehmann. Jetzt ginge es darum, „eine optimale Vorrunde zu spielen“, um bei der WM vielleicht das nachzuholen, was ihm mit seinem Klub verwehrt blieb. Das Negativerlebnis hat sich aus Lehmanns Sicht schon überlebt. „Sehen Sie, nur eine Mannschaft hat die Champions League gewonnen, und nur eine von 32 Mannschaften wird Weltmeister werden. Für alle anderen wird es mindestens eine Enttäuschung geben.“ Deshalb müssten sich nicht alle in psychologische Behandlung begeben. Jens Lehmann wirkt in sich gefestigt. Er spricht langsam, ist auskunftsfreudig. Dass er jetzt die Nummer eins trägt, „ist für mich gar nicht so wichtig“, sagt Lehmann. Als die Torwartfrage in Deutschland noch nicht entschieden war, hatte er sich die Nummer neun genommen, weil er außer Torwart nur hätte Stürmer werden wollen. Diese Nummer trägt jetzt Mike Hanke. Und Oliver Kahn hat die zwölf bekommen.

Lehmann erzählt, dass er am Morgen noch mit der Nummer zwölf an einem Tisch gefrühstückt habe. Einfach so. „Wir haben uns über ein paar andere Dinge unterhalten“, sagt Lehmann und lächelt. Eventuell darüber, ob er jetzt als neue Nummer eins eine andere Rolle zu spielen hat? „Nein, man erwartet ja nicht, dass ich auf einmal Wunderdinge mache“, sagt Lehmann. Die Trainer hätten ihre Entscheidung vor dem Hintergrund der vergangenen zwei Jahre getroffen. Deshalb glaubt er nicht, dass von ihm verlangt wird, sich groß zu ändern oder gar eine neue Rolle zu spielen. „Da würde man sich ja verstellen, das wäre nicht echt.“

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