
© Reuters/Tony O’Brien
Eines der größten Fußballmärchen in Europa: Oliver Glasner stellt Crystal Palace auf den Kopf
Der Verein aus London ärgert nicht nur die gut betuchten Klubs aus der Premier League. Die Fans träumen schon von großen Abenden im Europapokal − trotz Ärger mit der Uefa.
Stand:
Am Samstag wusste Oliver Glasner nicht wohin mit den Emotionen. Er sprintete zunächst zehn Meter die Seitenlinie entlang, drehte sich dann um und sprintete zurück in seine Coaching-Zone.
Die Hände gingen zunächst in den Himmel, dann nach vorne und am Ende nach unten zum Jubel mit geballten Fäusten. Eine angemessen verrückte Reaktion auf das späte Siegtor von Eddie Nketiah und den famosen Sieg seiner Mannschaft gegen den Meister FC Liverpool.
Die Szene passte gut zur aktuellen Gemütslage bei Crystal Palace. Denn nach einer Achterbahn der Gefühle im vergangenen Sommer reiten die Südlondoner mittlerweile wieder eine riesige Welle der Euphorie. Fünf Tage nach dem Sieg gegen Liverpool startet Palace am Donnerstag in die erste Europapokalsaison seiner Vereinsgeschichte. Das Spiel gegen Dynamo Kiew in Lublin (18:45, Sky/RTL+) soll der erste Schritt zum nächsten Meisterstück von Oliver Glasner sein.
Dass das Reiseziel Lublin heißt und nicht Porto oder Sevilla, juckt zwar immer noch ein bisschen. Nach dem sensationellen Sieg im FA-Cup-Finale gegen Manchester City im vergangenen Mai hatten sich die Eagles eigentlich einen Platz in der Europa League verdient. Erst danach stellte sich heraus, dass sie in die Conference League absteigen mussten.
Verein verlor vor dem Sportgerichtshof
Grund dafür war die Multi-Club-Ownership-Regel der Uefa. Demnach durfte Palace nicht im gleichen Wettbewerb wie der französische Klub Lyon antreten, weil beide bis März 2025 zum Teil im Besitz des US-amerikanischen Investors John Textor waren. Dass Textor schon längst vor Beginn der laufenden Saison seine Anteile verkauft hatte, war am Ende nicht entscheidend. Im August verlor Palace auch vor dem Internationalen Sportgerichthof Cas.
Dass ausgerechnet Nottingham Forest davon profitierte, dessen Besitzer Evangelos Marinakis auch noch bei Olympiakos Piräus die Strippen zieht, machte die Entscheidung für viele nur noch unverständlicher. Aus Sicht der Palace-Fans war das nicht nur ein Justizirrtum, sondern auch ein dickes Haar in der Suppe des historischen Pokalsiegs.
Doch einige Wochen nach dem Cas-Urteil ist der Frust verpufft und die Euphorie wieder zurück. Gegen Kiew war der Gästeblock innerhalb von wenigen Minuten schon ausverkauft. Rund 2500 Palace-Fans reisen diese Woche nach Polen. Viele von ihnen träumen jetzt schon vom Titel.
Und warum auch nicht? Denn aktuell könnte es kaum besser laufen. In der Premier League steht Palace nach sechs Spielen auf dem dritten Platz und ist als einzige Mannschaft der Liga noch ungeschlagen. Der Sieg gegen Liverpool war gleich der zweite in wenigen Monaten.
Auch im August gewann Glasners Mannschaft im Community Shield – die englische Version des Supercups – gegen die Reds. Wenn man City und Liverpool schon zwei Trophäen aus den Händen gerissen hat, warum sollte man es nicht auch in der Conference League weit schaffen?
Kann der Verein Glasner halten?
Glasner bleibt natürlich noch schön auf dem Boden: „Wenn du zum ersten Mal in einem Wettbewerb spielst, wäre es arrogant, gleich am Anfang vom Titel zu sprechen“, warnte der Österreicher nach dem knappen Sieg in der Play-Off-Runde gegen den norwegischen FK Frederikstad. „Das ist doch das erste Mal, dass Palace überhaupt ein Pflichtspiel außerhalb Englands bestreitet. Wir müssen bescheiden bleiben und alles Schritt für Schritt nehmen.“
Dabei ist Glasner doch selbst der Grund, warum viele vom großen Wurf in Europa träumen. Denn in nur anderthalb Jahren hat der Österreicher das Selbstverständnis dieses Klubs fast komplett auf den Kopf gestellt.
Sie sind so gut organisiert, und das kommt vom Trainer, der einfach brillant ist.
BBC-Experte Micah Richards
Früher gehörte Palace zu den grauen Mäusen der Premier League. Allein in London gab es vier andere Klubs mit deutlich größeren Mitteln. Seit dem Aufstieg in die Premier League 2013 landeten die Eagles nie höher als Platz zehn.
Unter Glasner durchlebt der Klub jedoch eine ähnliche Wandlung wie einst sein früherer Klub Eintracht Frankfurt. Genau wie den Adlern vom Main hat der überraschende Pokalsieg auch den Eagles von der Themse neue Flügel verliehen. Was früher unvorstellbar war, erscheint plötzlich greifbar. Sogar ein Europapokalsieg, wie es Glasner schon 2022 mit Frankfurt gelungen ist.
Wie Frankfurt macht das Palace auch trotz des finanziellen Rückstands auf den großen Klubs. Nach dem Abgang von Star-Spieler Eberechi Eze im Sommer hatten etwa viele mit einem Leistungsabfall gerechnet. Stattdessen spielt Palace in dieser Saison fast noch besser. Und auch das liegt für viele Beobachter an Glasner: „Sie sind so gut organisiert, und das kommt vom Trainer, der einfach brillant ist“, schwärmte BBC-Experte Micah Richards am Wochenende.
Die einzige Frage für Palace ist nun, ob sie Glasner halten können. Denn pünktlich zum Europa-League-Start kursieren plötzlich finstere Gerüchte um die Zukunft des Trainers. Der Vertrag des Österreichers läuft im Sommer aus und im schlimmsten Fall könnte er früher weg sein. Schon jetzt wird er heiß gehandelt als möglicher Nachfolger für den wackelnden Manchester-United-Trainer Ruben Amorim.
Einen Wechsel in den Norden hat er selbst bisher nicht ausgeschlossen. Dennoch würde es überraschen, wenn Glasner jetzt vorzeitig von Bord springt. Schon im Sommer 2024 hat er ein Angebot aus München abgelehnt und bei United ist das Arbeitsklima um einiges neurotischer und toxischer als beim FC Bayern. In Manchester könnte Glasner höchstens eine Menge Geld verdienen. In Südlondon kann er hingegen ein Fußballmärchen für die Ewigkeit schreiben.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: