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Der Bomber. Gerd Müller im Trikot des FC Bayern.

© p-a/ASA

Tagesspiegel-Wahl: Müller ist beste Sturmspitze: "Er war ein Phänomen"

Experten-Jury und Tagesspiegel-Leser haben Gerd Müller zur besten Sturmspitze in der Bundesliga-Geschichte gewählt. Dieter Hoeneß, sein Nachfolger bei den Bayern, erzählt, was Müller für ihn einmalig macht.

Ein aufregenderes Debüt, als ich es 1977 mit dem VfB Stuttgart in der Bundesliga erlebt habe, kann man sich vermutlich gar nicht vorstellen. Unser erster Gegner nach dem Aufstieg war ausgerechnet der große FC Bayern München, der noch ein Jahr zuvor den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte. Als krasser Außenseiter im ausverkauften Neckarstadion gegen die Weltmeister Maier, Schwarzenbeck, Müller, noch dazu gegen den eigenen Bruder: Besser geht es wirklich nicht. Das 3:3 war eigentlich auch ein super Auftakt für uns. Wir wussten ja überhaupt nicht, wo wir als Aufsteiger stehen. Ärgerlich war nur, dass wir sogar bis eine Minute vor Schluss 3:2 gegen die Bayern führten und kurz vor einem Sensationssieg standen. Bis Gerd Müller mal wieder zugeschlagen hat.

Zwei Tore erzielte Gerd in diesem Spiel, 365 waren es insgesamt in 427 Bundesligaspielen, 68 in 62 Länderspielen. Das sagt eigentlich alles. Gerd war ein Phänomen. Er hat den Unterschied gemacht. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Ich habe schon immer gesagt: Gerd Müller ist in der Rangliste der besten Fußballer der Geschichte ganz oben anzusiedeln. Für mich ist er sogar der Beste überhaupt. Natürlich hat es elegantere Spieler gegeben: Beckenbauer, Pelé, Cruyff, Platini, Maradona oder jetzt Messi, aber diese Effizienz und Durchsetzungsfähigkeit wie Gerd Müller, die hatte keiner. Und Tore sind nun mal die Essenz des Spiels.

Als Jugend- und Amateurspieler habe ich meinen Bruder Uli häufiger in München besucht, bin auch beim Training an der Säbener Straße gewesen und habe Gerd Müller mal die Hand geschüttelt. Das war schon etwas ganz Besonderes. Ich kann allerdings nicht sagen, dass er mein persönliches Vorbild war, als ich angefangen habe, Fußball zu spielen. Es hat sich ja früh abgezeichnet, dass ich schon von der Statur her mit Sicherheit kein zweiter Gerd Müller werden würde. Außerdem habe ich bis zum meinem 15. Lebensjahr im Tor gespielt. Ich war sogar von Udo Lattek als Torhüter zu einem Lehrgang der Schüler-Nationalmannschaft eingeladen. Eine Karriere als Torwart war bei mir viel mehr vorgezeichnet als eine als Stürmer. Aber meinem Temperament hat die Position überhaupt nicht entsprochen. Wenn du 0:1 hinten lagst, konntest du als Torhüter überhaupt nichts mehr machen. Du konntest nur hoffen, dass deine Mitspieler das Ding noch drehen. Von anderen abhängig zu sein, das war nichts für mich. Deshalb habe ich irgendwann angefangen, mich nach der Pause im Sturm einwechseln zu lassen, wenn wir klar führten – und noch drei oder vier Tore geschossen.

Die Position des Mittelstürmers ist für mich die schwerste im Fußball überhaupt. Zu meiner Zeit, als noch mit Libero gespielt wurde, war sie sogar noch schwieriger. Hattest du den einen Verteidiger ausgespielt, war der nächste schon da. Wenn der Gegner dich ernst nahm, wie Gerd Müller oder später auch mich, dann hattest du es meistens mit zwei Gegenspielern zu tun. Umso erstaunlicher war, dass Gerd eine solche Torausbeute hatte. Das ist sicherlich auf seine Art mit Messi vergleichbar. Er hat Dinge gemacht, die gar nicht möglich waren. Das Tor im WM-Finale gegen Holland zum Beispiel. Eigentlich springt dem Gerd der Ball vom Fuß. Aber wie schnell er dann wieder hinter den Ball kommt, aus der Drehung schießt und dem Torhüter keine Chance lässt – das ist einfach phänomenal. Als Gerd später aus Fort Lauderdale nach Deutschland zurückgekehrt war, hat er hin und wieder bei uns mittrainiert. Es war eine große Freude für alle, mit ihm auf dem Platz zu stehen, aber man hat auch gesehen, dass er in Amerika schon einiges verlernt hatte. Trotzdem habe ich ihn immer bewundert. Ungeachtet seiner großen Erfolge war und ist er ein ganz zurückhaltender und freundlicher Mensch, der auch zu seinen besten Zeiten immer geerdet war. Gerd ist einfach ein feiner Kerl.

Ein Mittelstürmer braucht natürlich eine andere Technik als ein Spielmacher, der das ganze Feld vor sich hat. Du musst mit dem Rücken zum Tor Bälle annehmen, schnelle Drehungen machen, ein unheimlich gutes Balancegefühl haben. Ich habe das immer Gebrauchstechnik genannt. Und Gerd besaß eine außergewöhnliche Gebrauchstechnik. Die Drehungen mit Ball, auf engstem Raum, gegen zwei, drei Leute – einmalig. Häufig konntest du dir gar nicht vorstellen, dass man da durchkommt. Gerd hat es geschafft. Das mag nicht immer filigran ausgesehen haben, aber man neigt dazu, seine technischen Fähigkeiten zu unterschätzen. Es war technisch unglaublich schwer, die Bälle so zu kontrollieren, wie er das gemacht hat. Sein Doppelpassspiel mit Franz Beckenbauer zum Beispiel: Ohne die entsprechende Technik geht das gar nicht. Weil alles in Bewegung passiert, immer mit dem Rücken zum Tor, immer mit einem Gegner an dir dran.

Müller erhielt von der Experten-Jury 131 von möglichen 132 Punkten.

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Als ich 1979 zu den Bayern kam, war ich im Grunde so etwas wie Müllers Nachfolger. Gerd war ein paar Monate zuvor zu den Fort Lauderdale Strikers gewechselt, nachdem er sich mit Trainer Pal Csernai verkracht hatte. Mitten in der Saison hatte er um seine Freigabe gebeten, nur eine Woche später bestritt er sein letztes Spiel für die Bayern. Vielleicht war es ganz gut für mich, dass ich erst zur neuen Saison kam und nicht unmittelbar sein Nachfolger wurde. Es war auch so eine hohe Messlatte, die Gerd gelegt hatte. Aber wir waren als Stürmer völlig unterschiedliche Typen. Außerdem hatte sich das Spiel der Bayern verändert. Die Ära Beckenbauer war vorbei. Alles war sehr stark auf Karl-Heinz Rummenigge ausgerichtet und dann irgendwann auch auf mich. Pal Csernai hat ein neues System entwickelt, das dem heutigen Fußball schon sehr nahe kam. Wir haben hoch verteidigt, und der Mandzukic, also der, der dem Libero oder dem Manndecker beim Spielaufbau den Ball stiehlt, das war damals ich.

Die Tagesspiegel-Leser sahen Müller deutlich vor Uwe Seeler und Klaus Fischer.

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Mein Bruder hat mir einmal erzählt, dass sie bei den Bayern nach dem Training oft noch ein spezielles Spiel gespielt haben. Zwei gegen zwei über 20, 25 Meter auf große Tore. Eigentlich verrückt, so was noch nach dem offiziellen Training zu machen. Ich glaube, Franz Beckenbauer hat mit Gerd Müller zusammen gespielt, der Uli mit Paul Breitner. Du musstest immer direkt spielen, konntest also nicht dribbeln. Das heißt, du musstest gut zum Ball stehen, geschickt sein, eine gute Schusstechnik haben. Ich habe das zwar nie gesehen, aber diese Spielform muss Gerd Müller mit seinen Qualitäten sehr entgegengekommen sein.

Aufgezeichnet von Stefan Hermanns.

Dieter Hoeneß

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