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Der Österreicher Thomas Geierspichler, 36, ist Rennrollstuhlfahrer und Buchautor.

© Petra Dissertori

Interview: „Erfolg basierend auf Betrug könnte ich nie genießen“

Rennrohlstuhlfahrer Thomas Geierspichler über seinen tiefen Glauben an Gott, Drucksituationen im Spitzensport und wahre Sieger.

Beim 400-Meter-Finale der Männer in Ihrer Klasse sind Sie als Vierter ins Ziel gegangen. Weil der zunächst drittplatzierte Japaner wegen Linienüberschreitung disqualifiziert wurde, haben Sie doch noch Bronze gewonnen. Was war das für ein Gefühl?

Für einen gelernten Langstreckenfahrer habe ich einen super Start erwischt. Die Stimmung im Stadion war natürlich eine Sensation, ausverkauftes Haus. Ich war ganz locker. Nach der letzten Kurve war ich an dritter Stelle und die beiden Erstplatzierten sind weggezogen. Da gibt es natürlich diese Frage, ob die richtig klassifiziert sind, aber das ist ja nicht nur ein österreichisches Thema. Nun ja, dann habe ich irgendwann festgestellt: Verdammt, da ist ja der Japaner. Ich habe gekämpft, aber er ist immer näher gekommen. Ich habe einfach gehofft, dass die Ziellinie gekommen, nur die ist irgendwie 14 Hundertstel zu spät gekommen. Beim rausfahren habe ich mich geärgert, weil es so knapp war. Dann habe ich  gesehen, dass ich an dritter Stelle stand. Die Japaner haben noch einen Gegenprotest eingelegt. Aberletztendlich hat der Kampfrichter mir gesagt: Fertig machen zur Siegerehrung! Es ist einfach ein überwältigendes Gefühl gewesen.

2004 in Athen haben Sie das erste Mal Gold gewonnen. Den Moment, als die österreichische Nationalhymne gespielt wurde, beschreiben Sie in Ihrer Biographie so: „Die Hymne wurde für uns beide [Ihre Mutter und Sie] gespielt.“ Warum? Beschreiben Sie doch mal Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter.

Die Mutter ist wahrscheinlich für jeden Menschen die wichtigste Person, auch wenn das die Freundin nicht so gerne hören will. Nach dem Unfall hat sie immer an mich geglaubt. Das war für sie eine schwierige Zeit. Dann ist mein Vater gestorben. In der Zeit davor haben wir ihn jeden Tag im Krankenhaus besucht und sind dadurch viel enger zusammengerückt. Aber allein die Situation mit meinem Rollstuhl verbindet wie fast jede Schwierigkeit, die man zusammen meistert. Wenn man erfolgreich ist, hat man viele Schulterklopfer und Freunde. Wichtig ist aber: Mit welchen Personen gehst du durch Schwierigkeit? Meine Mutter hat mich immer abgeschirmt von allen Widrigkeiten von außen.

Sie sprechen von Widrigkeiten. Der tiefste Einschnitt in Ihrem Leben war der Unfall 1997, bei dem Sie querschnittsgelähmt wurden. Sie waren nur Beifahrer neben einem Freund. Welche Auswirkungen hatte dieser Moment auf Ihr Verhältnis?

Zuerst habe ich ihn gehasst. Ich habe mir gedacht: Wie bescheuert kann man sein, dass man beim Autofahren einschläft? Das ist denke ich eine ganz normale Reaktion, denn der Mensch sucht immer einen Schuldigen. Mit der Zeit habe ich durch den Glauben an Gott jedoch gelernt, dass mein Hass nichts daran ändern wird, dass ich im Rollstuhl sitze. Man trägt vielmehr einen schweren Rucksack mit sich, der einen belastet. Deswegen hat mir Gott gesagt: „Du musst diesen Rucksack aufmachen und dir anschauen, auch wenn es am Anfang weh tut.“ Das hat mich frei gemacht und ich habe ihm verziehen. Es tut mir heute Leid für ihn, weil er sagt, es gehe ihm nur gut, wenn es mir gut geht. Dabei soll es ihm eigentlich gut gehen, weil es ihm gut geht. Er hat mir auch erzählt, dass er hin und wieder Albträume hat. Ich vergönne keinem Menschen, mit so einer Belastung Leben zu müssen.

Warum fiel es Ihnen am Anfang so schwer, Ihre Behinderung zu akzeptieren?

Ich stand mit 18 Jahren vor der Blüte meines Lebens. Und dann saß ich auf einmal im Rollstuhl. Ich habe vorher nichts mit Behinderten zu tun gehabt, und dann war ich plötzlich selber einer von denen. Sie waren immer so wie Affen im Käfig, von außen betrachtet. Man wollte nicht in den Käfig hineingehen, es könnte zu gefährlich sein. Sie waren irgendwo Wesen, schon auch Menschen, aber eigentlich das, was man nie selber sein will. Dann bist du selber so jemand, aber irgendwie auch nicht, denn ich war der Thomas Geierspichler, der Fußball gespielt hat und bei den Mädchen gut ankam. Dann war ich selber eines von den Wesen, und ich wusste, wie man von außen gesehen wird. Ich komme ja von draußen. Ich wollte subjektiv nicht sein, was ich objektiv war. Und das habe ich dann mit Alkohol und Drogen begossen.

Glauben Sie, dass sie auch ohne Sport ein erfülltes Leben hätten führen können?

Ohne Sport schon, aber nicht ohne den Glauben. Ein mittelmäßiges Leben hätte ich mit der Zeit wohl schon gefunden, nur jetzt bin ich einfach zufrieden und glücklich. Der Glaube an Gott hat mir die Kraft gegeben, zu mir selber zu finden. Gott zeigt dir den für dich bestimmten Weg anhand von Träumen und Visionen. Er hat mir einfach gesagt: Für dich ist es der Sport.

Woher haben Sie die Motivation genommen, den langen Weg zu den Paralympics zu gehen? Visionen, Träume – aber so eine Teilnahme bedeutet ja schon mehr, als nur ein bisschen Sport zu treiben.

Das war ein Werdegang. Zuerst hat der Sport mir Freude bereitet. Dann kamen nach und nach die Ziele. Ich bekam von Gott immer wieder Wegweiser. Das hat sich dann einfach so entwickelt. Da war zum Beispiel der schwere Sturz von Hermann Maier (österreichischer Skifahrer bei Olympia) 1998 in Nagamo. Drei Tage später holt er Gold. Da habe ich mir gedacht: Das will ich auch!

In den Drucksituationen bei Wettkämpfen: Können Sie bewusst sagen, woher sie Ihre mentale Kraft nehmen?

Ich kann es wahrnehmen, aber es soll eigentlich aus dem Unterbewusstsein kommen. Ich habe kein Ritual, das ist schon wieder zu bewusst. Die maximale Leistung kann ich nur bringen, wenn ich bei mir selber bin. Wenn ich locker bin, bin ich am besten.

Sie schreiben in Ihrem Buch, man solle immer an das Gute glauben. Wie vereinbaren Sie das mit schlechten Erfahrungen?

Wenn jemand in einer Gletscherspalte etwa gefangen ist, dann lässt ihn meistens der Glaube an Rettung überleben. Der Glaube ist der Zielanker, zu dem ich hin möchte. Wenn du auf Schlechtes schaust, dann siehst du auch nur Schlechtes. Ich erlebe auch Rückschläge. Aber dann stellt sich wieder die Frage: Gehst du zugrunde daran oder geht es trotzdem weiter?

Der deutsche Pfarrer und ehemalige Paralympionike Rainer Schmidt sagt: „Den wahren Sieg kann sich niemand erschleichen.“ Äußern Sie sich zu dieser Aussage.

Ich glaube, wenn ich wüsste, dass ich abgekürzt oder gedopt habe, würde ich das mein Leben lang mit mir herumtragen. Das würde mich unglücklich machen. Es ist ein Trugschluss, dass wir unbedingt vor anderen etwas darstellen wollen, nur um uns besser zu fühlen. Ich weiß nicht, ob du in den Spiegel schauen kannst, wenn du weißt, dass du betrogen hast. Erfolg basierend auf Betrug könnte ich nie genießen.

Eine letzte Frage, als kleiner Ausblick: Welche Ziele haben Sie noch für die Zukunft?

Gott wird mir die nötigen Instruktionen geben. Es stehen einige Projekte an: Ich habe eine Einladung in den Südsudan bekommen, wo es relativ viele Kriegsversehrte gibt. Diese Leute soll ich motivieren und zum Sport bringen. Wir haben einen Verein, in dem ich Vorträge halte. Dazu haben wir unseren Hof in Ferienapartments umgestaltet, und ich will ihn weiter ausbauen. Ich habe jetzt schon so viele Sachen zu tun, die ich nicht alle bewältigen kann.

Der Österreicher Thomas Geierspichler, 36, ist Rennrollstuhlfahrer und Buchautor. In seiner Autobiographie „Mit Rückgrat zurück ins Leben“  beschreibt er seinen Werdegang vom „Bauernbub“ zum mehrmaligen Paralympics-Sieger.

Die Fragen stellte Benjamin Scholz.

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