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Lorenz Maroldt ist Chefredakteur vom Tagesspiegel.

© imago/Future Image

Lorenz Maroldt im Interview: „Fraglich ist, ob der Funke überspringen wird“

Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt über Behindertensport in den Medien, Barrierefreiheit und den Corona-Einfluss auf die Paralympics.

Stand:

Herr Maroldt, bei welcher Sportart der Paralympics fiebern Sie so sehr mit, dass Sie die Nachbarn stören?

Ach, das ist eine schwierige Frage. Besonders stechen natürlich die Disziplinen hervor, die es so im reinen olympischen Sport nicht gibt. Aber ich finde, bei den meisten Sportarten macht es keinen großartigen Unterschied. Ich bin tatsächlich ein begeisterter Blindenfußballfan – wobei ich da zumindest im Stadion nicht laut jubeln darf, um die Spielerinnen und Spieler nicht zu verwirren. Sie müssen sich schließlich auf die Geräusche vom Ball konzentrieren. Ansonsten fiebere ich auch bei den Sprints immer mit. Die sind superspannend.

Aus Ihrer Sicht als Chefredakteur des Tagesspiegels: Wie hat sich die Rolle, die der Para-Sport in den deutschen Medien spielt, innerhalb der vergangenen Jahrzehnte entwickelt?

In meinen Augen wurde der Para-Sport erst innerhalb der letzten zehn bis fünfzehn Jahre wirklich ernst genommen. Dies nahm seinen Anfang 2004 und erreichte seinen Höhepunkt 2016 bei den Paralympischen Spielen in London, bei denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Superhumen hervorgehoben wurden. Hier hat sich auf jeden Fall einiges getan. Dennoch finde ich, dass der Para-Sport in vielen Bereichen weiterhin seinen Amateurcharakter beibehält – besonders in der Berichterstattung. Als Jurymitglied, das die Einreichungen zum German Paralympic Media Award erhält, muss ich mich immer noch manchmal fremdschämen. Gerade bei Journalistinnen und Journalisten, die nicht tief in den Themen stecken, werden die Menschen häufig heroisiert. Die erzählten Geschichten werden mit einer Kuriosität versehen, die verhindert, dass das Thema Para-Sport zur Normalität wird. Das Ganze wirkt nicht selten künstlich aufgesetzt und sehr bemüht. Die oftmalig geringe Qualität im Vergleich zu anderen sportlichen Beiträgen ist mir da noch ein Dorn im Auge.

Sie haben selbst bereits den Begriff der Superhumen erwähnt. Dieser führte 2016 zu starken Debatten. Wie stehen Sie dazu?

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits sollte Para-Sport etwas ganz Selbstverständliches und gerade nichts Übermenschliches sein. Andererseits drücken derartige Begriffe auch einen enormen Respekt aus. Die Sportlerinnen und Sportler leisten unheimlich viel. Es ist zudem beeindruckend, welche technische Ausstattung dahintersteckt. Insofern finde ich die Bezeichnung charmant. Sie spricht den Teilnehmenden ein großes Selbstbewusstsein zu – und ist natürlich auch ein wenig provokant. Das gefällt mir.

Worin liegen die besonderen Herausforderungen bei der Berichterstattung im Bereich des Behindertensports?

Im paralympischen Sport ist vieles noch erklärungsbedürftig: Die Klassifizierung zum Beispiel. Es muss viel weiter ausgeholt werden. Auch haben Journalistinnen und Journalisten häufig Berührungsängste und trauen sich nicht an das Themenfeld heran, weil sie Furcht davor haben, die falschen Fragen zu stellen.

Gibt es denn falsche Fragen?

Nein. Es ist natürlich wahr, dass man sich erst hineinfuchsen muss, aber viel wichtiger ist, dass überhaupt gefragt und berichtet wird.

Was hat sich für Sie nach der ersten Teilnahme an Paralympischen Spielen geändert?

Das Ereignis ist super mitreißend. Ich finde es spannend, wie die Paralympics die Stimmung der Olympischen Spiele gelungen weitertragen. Das ganze Event in live mitzuerleben war für mich ein Riesenschritt. Ich glaube, dass es jedem der Teilnehmerinnen und Teilnehmer so gehen wird. Ich habe jedes Mal die Städte in ihrer ganz besonderen Form erlebt: die freundliche, offene Atmosphäre, die Fülle an beeindruckenden Menschen – das kompensiert auf jeden Fall den gesamten Aufwand und die langen Flugstrecken. London und Rio waren für mich das Allergrößte.

Sie haben bereits Ihre Tätigkeit als Jurymitglied des German Paralympic Media Award erwähnt. In dieser Funktion erhalten Sie einen breiten Überblick über die deutsche Medienlandschaft. Wie ordnet sich die Berichterstattung des Tagesspiegel im Bereich des Behindertensports ein?

Ich lese in dieser Funktion natürlich sehr viele Beiträge – und da muss ich schon sagen, dass der Tagesspiegel besonders viel macht. Wir haben nicht nur jedes Mal bei den Paralympics ein ganzes Redaktionsteam mit dabei, sondern messen dem Behindertensport auch im regulären Betrieb eine wichtige Bedeutung zu.  Dabei lernen junge Kolleginnen und Kollegen immer von den bereits erfahrenen. Wenn ich mich umsehe, muss ich feststellen, dass sich auch kleinere Zeitungen im Vergleich recht gelungen positionieren. Sie beschäftigen sich häufig regional mit ihren persönlichen Athletinnen und Athleten. Klassische Großstadtsportredaktionen greifen die Themen meist nur temporär auf und lassen sie dann wieder fallen. 

Welche Rückmeldung erhält der Tagesspiegel von seinen Leserinnen und Lesern?

Wir machen mit den Themen keine schlechte Erfahrung. Es existiert ein recht großes Interesse daran: 50 Prozemt der Abonnentinnen und Abonnenten haben sich bei den letzten Spielen daran erinnert, dass es die Paralympics Zeitung als Beilage gab. Und 25 Prozemt haben sie gelesen. Das sind deutlich höhere Quoten als bei anderen Zeitungsbeilagen, die wir produzieren.

Was wünschen Sie sich von den eingereichten Beiträgen und welchen Anspruch haben Sie an Artikel, die im Tagesspiegel erscheinen?

Die Berichterstattung sollte keinen staunenden Charakter enthalten. Oft ist dies der Unerfahrenheit derer geschuldet, die sich den Themen annehmen. Dies führt bei mir immer zu einem unangenehmen Aufstoßen. Dieses Bestaunen verleitet dazu, dass aus den Sportlerinnen und Sportlern Kuriositäten gemacht werden, was mitunter sehr befremdlich sein kann. Rundum: sie sollen das Normale unterstreichen – nicht das Besondere.

Welche Bedeutung messen Sie der Berichterstattung zu?

Ich denke das größte Ziel sollte es sein, aus der Blase an ohnehin interessierten Person herauszukommen. Menschen, die sich bislang wenig mit dem Thema auseinandergesetzt haben, merken, da geschieht etwas Großes, das sollte ich mitbekommen. Die Hoffnung ist, dass dadurch Schlüsse für den Alltag gezogen werden. Wenn die Hemmschwelle sinkt und die Berührungsängste abgebaut werden, sollte auch innerhalb der gesamten Gesellschaft eine höhere Inklusion geschaffen werden können. Mir ist es dabei wichtig, dass der Anteil des Mitleids sinkt und das Maß an Respekt und Anerkennung umso mehr ansteigt.

Ist dies auf internationaler Ebene ähnlich?

Schwer zu vergleichen, aber ich denke, dass die Spiele und deren Berichterstattung gerade an Orten am meisten bewegen können, an denen noch viel zu gering inklusive Strukturen vorherrschen. Ich nenne das gerne den Rio- oder Chinaeffekt. Auch wenn man dort immer noch kaum von Barrierefreiheit und staatlicher Gleichstellung sprechen kann, hat sich doch einiges zum Guten gewandt. 

In diesem Jahr finden die Paralympischen Spiele unter sehr eingeschränkten Bedingungen statt. Was erwarten Sie?

Ich denke, der Funke wird nicht überspringen. Wenn Sie einmal die Spiele live erlebt haben, können Sie sich nicht vorstellen, wie dieser Spirit mit kaum Publikum, starken Abgrenzungen und Beschränkungen, sich gegenseitig anzufeuern, erreicht werden soll. Ich würde mich freuen, wenn mindestens die Einschaltquoten ähnlich hoch wären, wie bei den letzten Spielen. Aber das wird schwierig sein. Schließlich sind leere Zuschauerränge auch für TV-Begeisterte langweiliger.  Ich denke, wir werden diesen Sommer eine andere Art von Sportevent erleben – eher vergleichbar mit nationalen Wettkämpfen, für die sich nur eine kleine Gruppe an Personen interessiert.

Was hat dies für Auswirkungen?

Normalerweise gibt es vor und nach den Paralympischen Spielen jeweils mediale Aufmerksamkeit. Ich denke, dieser Effekt wird kaum auftreten und das Interesse verfliegt sehr schnell wieder.

Sehen Sie auch Chancen, die aus der aktuellen Lage erwachsen können?

Nein. Einzig vielleicht, dass das starke Durchhaltevermögen aller gerade zum Vorschein tritt.

Inwiefern sehen Sie die Medien in der Verantwortung die Vielfalt des Sportes darzustellen? Wie treffen Sie die Entscheidung zwischen Vielfalt versus Mainstream?

Hier gilt es beides zu betrachten. Auf der einen Seite müssen wir den Interessen unserer Leserinnen und Leser folgen. Andererseits erfüllt unsere Berichterstattung auch einen gesamtgesellschaftlichen Zweck. Entsprechend spielen hier der Ausgleichsgedanke sowie ein Gerechtigkeitsempfinden eine entscheidende Rolle. Wir versuchen durchaus ein breites Spektrum abzudecken – und zudem interessieren sich ja auch nicht alle nur für Fußball.

Wie barrierefrei konsumierbar ist denn der Tagesspiel?

(Seufzt) Mit barrierefreien Zugängen tun sich alle schwer. Ich denke, das befindet sich gerade in einer rasanten positiven Entwicklung, insbesondere durch die technischen Neuerungen. Ich muss aber zugeben, dass wir noch nicht sehr barrierefrei sind und viele Personen mit Behinderung Schwierigkeiten haben, unsere Angebote zu nutzen

Woran liegt das? Fehlt es an Anreizen?

Ich denke, dass eine grundlegende Sensibilisierung noch nicht eingetreten ist. Wenn das eigene Team divers aufgestellt ist, fällt es deutlich leichter: sobald eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter selbst eine Behinderung aufweist oder einen engen Bezug zu diesem Thema hat, ist es präsent und es wird darauf geachtet. Durch Seminare und Austausch sowie die Weitergabe von Positivbeispielen kann hier viel erreicht werden.

Welche Wünsche haben Sie an den paralympischen Sport?

Es fehlt noch zu großen Teilen an langjährigen Vorbildern. Menschen, die auch nach ihrer sportlichen Karriere in diesem Bereich verbleiben. Wann sieht man denn einmal in der medialen Präsenz eine paralympische Athletin oder einen paralympischen Athleten, z.B. als Sportmoderatorin oder Sportmoderator? Nach den Sporterfolgen sollten weitere Karrieremöglichkeiten bestehen, die mediale Aufmerksamkeit schaffen. So können zukunftsweisende Charaktere wahrgenommen werden und andere inspirieren. 

Dieser Text ist Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Alle Texte unserer Digitalen Serie finden Sie hier.

Lilith Diringer

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