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© ddp

Ultras: Gewalt als Event

Ultras schwören ihrem Verein ewige Liebe. Manche von ihnen gehen inzwischen aber lieber auf Raubzüge und verhalten sich wie Gangs.

Februar 2009, Bützow. Montagnachmittag, 30 Kilometer vor Rostock. Im Intercity 2116, Wagen 7, sitzen zwölf junge Fans des SC Freiburg auf dem Weg zum Zweitliga-Auswärtsspiel bei Hansa. Der Zug hält um 16.50 Uhr auf Gleis 2 in Bützow, die Tür öffnet sich piepend, 15 Vermummte greifen gezielt Wagen 7 an. Sie wissen, wo die Freiburger sitzen. Die Angreifer fordern die Fanschals von den Freiburgern, dann stehlen sie Taschen, Rucksäcke und Kreditkarten. Nach wenigen Sekunden springen die Täter schon wieder aus dem Zug, um 16.51 Uhr ist der Spuk vorbei.

Szenen wie diese spielen sich in Deutschland immer häufiger ab. Gezielt, geplant, organisiert und zum Teil mit Waffen greifen Gruppen Jugendlicher andere Fußballfans an; auch Unbeteiligte kommen zu Schaden. „Das hat eine andere Qualität“, sagt Matthias Menge von der Bundespolizei in Bad Bramstedt, die den Bützower Angriff untersucht. Von einer „neuen Dimension“ spricht Fanforscher Gunter A. Pilz von der Universität Hannover. „Gang-typisch“ seien die Überfälle: „Es gibt immer mehr junge Menschen, für die Fußball zum Gewalt-Event wird. Das nimmt schon fast dramatische Züge an.“ Vor drei Jahren stellte Pilz eine Studie vor, in der er den Begriff des „Hooltras“ einführte. Seine These: In den weitgehend friedlichen Ultra-Gruppen der Fußballvereine entstehen verstärkt gewaltbereite Teilgruppen. „Wir haben dafür viel Kritik einstecken müssen“, sagt Pilz. Heute sieht er sich bestätigt: Es sei genau das eingetreten, was er vorausgesagt habe.

Oktober 2008, Mönchengladbach. 800 Fans des 1. FC Köln werden in Bussen zum Stadion gefahren. Ein halbes Jahr zuvor sollen die Kölner die Zaunfahne der Ultras Mönchengladbach („UMG“) aus deren Vereinsheim gestohlen haben. In Fankreisen ahnt man: Das gibt Ärger. An einer Kreuzung knallt es, Leuchtraketen fliegen auf die Kölner Busse. Die Kölner schlagen die Scheiben aus ihren Bussen, die Gladbacher rennen davon.

Seit vor rund zehn Jahren die ersten Ultras in deutschen Stadien auftauchten, stehen sie im Wettstreit miteinander. Wer singt lauter? Leidenschaftlicher? Kreativer? Wer denkt sich die ausgefallenste Choreographie aus? In den vergangenen zwei bis drei Jahren beobachtet Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte in Frankfurt, wie sich dieser Wettstreit in den Bereich außerhalb der Stadien verlagert. „Das Stehlen von Fahnen oder Schals wird von einem Teil der Ultra-Szene als Bestandteil seiner Fankultur angesehen“, sagt Gabriel. Diese Übergriffe werden organisiert und geplant, Gewalt werde dabei in Kauf genommen. Sowohl Pilz als auch Gabriel legen Wert darauf, dass weite Teile der Szene friedlich sind. Die meisten Ultras „fühlen sich nach wie vor den Traditionen des Fußballs und ihres Klubs verpflichtet“, sagt Pilz. Mittlerweile ist aber zu beobachten, wie sich das Phänomen Ultras immer weiter vom Fußball entfernt und zu einer eigenständigen Jugendkultur wird. Die meist sehr jungen und fast immer männlichen Ultra-Neulinge kommen nicht über die Faszination für einen Verein oder die Sportart Fußball hinzu, sondern weil es cool ist, Ultra zu sein. Die oft einheitliche Kleidung, das Outlaw-Image, das weithin sichtbare Auftreten als Gruppe: All das spricht viele Jugendliche an. „Die Ultra-Szene ist in vielen Orten mittlerweile die bei weitem größte Jugend-Szene“, sagt Michael Gabriel.

Februar 2009, Hannover. Vermummt stürmen 30 Personen die Bar „Nordkurve“, wo das Bundesligaspiel von Hannover 96 gegen Borussia Mönchengladbach übertragen wird. Die Angreifer bewerfen die Gäste der Kneipe mit Flaschen, Gläsern und Stühlen, dann fliehen sie. Wenig später wird eine Gruppe Jugendlicher von der Polizei überprüft. Es handelt sich um Anhänger des Drittligisten Eintracht Braunschweig. Anscheinend wollten sie in Hannover ein Hockeyspiel der Eintracht besuchen, beim Fußball haben viele von ihnen Stadionverbot. Der Überfall auf die „Nordkurve“ kann ihnen nicht nachgewiesen werden, weil sie von Zeugen nicht identifiziert werden können.

Grundstein des Ultra-Daseins ist die unbedingte Liebe und Hingabe an einen Fußballklub. Allerdings sinkt die Bedeutung des wirklichen Spiels in der Ultra-Bewegung, das sieht man jedes Wochenende im Stadion. „Das Interesse am Geschehen auf dem Platz ist weniger stark, die Sprechchöre sind vom Spielgeschehen abgekoppelt“, sagt Michael Gabriel. Fanforscher Pilz sieht in den Kurven sogar eine ähnliche Entwicklung wie in den Vip-Bereichen und auf den Ehrentribünen: „Der Tag im Stadion wird zum Event, das ärgerlicherweise von 90 Minuten Fußball unterbrochen wird. Es steht nicht mehr im Vordergrund, die Mannschaft zu unterstützen.“ Manche Gruppen besuchen gar keine Heimspiele mehr, sondern fahren nur zu Auswärtspartien. „So wird das Fußballwochenende zur Gewalttour“, sagt Pilz.

Oktober 2008, Lübeck. Rund 100 Fans von Holstein Kiel sind auf der Rückreise vom Drittliga-Spiel bei Hansa Rostock II, ihr Regionalexpress wird beim Zwischenstopp an der Lübecker Station St. Jürgen mit Steinen angegriffen. Auf dem Bahnsteig entsteht eine Schlägerei, ein Fan wird von einem Stein am Kopf getroffen und schwer verletzt. Mehrere Kieler fahren mit einem öffentlichen Bus weiter, der mit einer Stahlkugel beschossen wird. Am Hauptbahnhof kommt es zur Auseinandersetzung zwischen den Holstein-Fans und der Polizei. Mehrere Fans werden festgenommen, die Bundespolizei ermittelt wegen Sachbeschädigung, Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Eingriff in den Bahnverkehr, Beleidigung und Missbrauch von Nothilfeeinrichtungen. Gegen den unbekannten Schützen der Metallkugel ermittelt die Kriminalpolizei wegen versuchter Tötung.

Bei vielen Überfällen geht es nicht um sportliche Rivalität, sondern um die Verteidigung eines Territoriums. „Man verteidigt nicht mehr den Namen seines Klubs, sondern vielmehr die Ehre der Stadt“, sagt Michael Gabriel. Auch sonst sind Ultra-Fans für Nichteingeweihte kaum mehr als Fußball-Fans zu erkennen. Ihre Symbolik steht der GraffitiSzene oft weitaus näher als der vom Fußball bekannten Bildsprache. Viele Ultra-Gruppen betreiben eigene Vereinsheime, die für Vertreter und Fanbeauftragte des Klubs tabu sind. Für Jugendliche bieten sich dort viele Möglichkeiten, sich zu engagieren: Die Choreographien des kommenden Spiels müssen organisatorisch und künstlerisch vorbereitet werden. Es gibt aber auch Kinoabende, Münchener Ultras organisieren regelmäßig ein anti-rassistisches Fußballturnier, Schalker Ultras verkaufen Plätzchen auf dem Weihnachtsmarkt.

Mai 2007, bei Würzburg. Zwei Fanbusse der „Supporters“ des 1. FC Nürnberg parken auf einem Rasthof, als Ultras der „Schickeria“ des FC Bayern eintreffen. Die Frau des Nürnberger Busfahrers wird von einer auf den Bus geworfenen Flasche getroffen und erblindet fast. Konsequenz: Nicht nur die Täter, sondern alle 73 Münchner erhalten drei Jahre Stadionverbot. Im Stadion hängt nun bei jedem Spiel ein Banner: „Ausgesperrte immer bei uns“.

Alle Ultras verbindet ein großes Misstrauen gegenüber Autoritäten, besonders der Polizei. „Die Distanz zum Staat nimmt zu“, sagt Gabriel. Szenefahnder und Fanbeauftragte sind oft zu alt und verstehen die Sprache der Jugendlichen nicht mehr. Die Ultras seien einmal eine „positive Innovation“ in der Fanszene gewesen, sagt Gabriel. Die Vereine hätten das aber ignoriert und ihnen wenig Wertschätzung und viel Misstrauen entgegengebracht. Bei Stadionverboten und hartem Eingreifen der Polizei kommt es zu einem Solidaritätseffekt. Das macht es dem besonnenen Teil einer Gruppe schwer, sich von den Gewalttätern zu distanzieren. Gabriel setzt auf einen intensiveren Dialog mit den Ultras, um die Entwicklung der letzten Jahre zu stoppen. „Es muss eine Debatte geben: Welche Fankultur wollen wir?“, sagt Gabriel. „Ich bin überzeugt, dass die Ultra-Bewegung vom Fußball abhängig ist. Das Stadion ist immer noch zwingend notwendig – das ist die Chance.“

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