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Hans-Georg Aschenbach, 61, war der beste Skispringer der DDR. 1974 wurde er Weltmeister auf der Normal- und der Großschanze, er gewann die Vierschanzentournee und wurde 1976 Olympiasieger in Innsbruck (unser Foto). Als Sportarzt blieb er 1988 bei einer Mannschaftsreise nach Hinterzarten in der Bundesrepublik und machte danach die Dopingpraktiken in der DDR öffentlich. Heute arbeitet er als Mediziner in Freiburg. In seinem Buch „Euer Held. Euer Verräter“ (Mitteldeutscher Verlag) zeichnet er sein Leben nach. Das Gespräch entstand im Rahmen einer Geschichtstagung der Deutschen Gesellschaft in Berlin.

© dpa

Interview: DDR-Skispringer Aschenbach: "Als Vater verachte ich mich"

Hans-Georg Aschenbach war Skisprungstar. Doch der Held der DDR floh 1988 in den Westen und verriet Dopingpläne. Frühere Sportler können ihm nicht verzeihen – seine Kinder auch nicht. Ein Gespräch.

Stand:

Herr Aschenbach, Sie waren der beste Skispringer Ihrer Zeit. Schon als Junge haben Sie einen Weltrekord aufgestellt.

Ja, das war 1968 bei der Jugendspartakiade. Ich verlor meine Ski beim Sprung, flog aber einfach weiter, 48 Meter. Die Landung war fast ein Telemark.

Wie fühlt man sich, wenn man fliegt?

Es ist ästhetisch, aber Arbeit. Es ist wie beim Schwimmen, wenn man sich vom Startblock abstößt; ins Freie hinein. Dann geht es schnell, wenige Sekunden – schwupps, gelandet. Die idealen Flüge gehen glatt und (schnippst mit den Finger) unten staunst du nur: So weit ging das?

Wären Sie ungedopt Doppelweltmeister 1974 und Olympiasieger 1976 geworden?

Mir stinkt, dass Sie gleich wieder mit dem Doping anfangen.

Damit müssen Sie leben – Sie haben selbst zugegeben, gedopt zu haben.

Damit müssen wir alle leben. Es ist eben die Schattenseite des DDR- Sports. Selbst ich bin manchmal geneigt zu sagen: Es war gar nicht so schlimm. Im DDR- Sport gab es ein einheitliches Sichtungs- und Auswahlsystem, das heute fehlt, es gab viele Ehrenamtler mit Freude am Sport. All das wird verunglimpft, weil ein paar Idioten meinten, man müsse mit Pillen Erfolge erzwingen.

Sie meinen die Sportfunktionäre.

Heute weiß ich, dass Doping Staatsdoktrin war. Minderjährige wurden mit Pillen gefüttert – ich nahm die mit 16, ohne zu wissen, was drin war. Mit 18 wurde mir das mitgeteilt, und wenn ich mich geweigert hätte, weiterzumachen, wäre ich weg gewesen. Ich habe mitgemacht, war beim Armeesportklub Oberhof, da gab es Sold. Ich habe dem System gedient, war Teil des Systems. Ich war das System.

Ihr Weg begann an einer Kinder- und Jugendsportschule.

Eine Kinderkaserne. Es war nicht schön: jeden Tag trainieren, jeden Tag Leistung bringen. Wenn ich Zweiter wurde, war ich ein Nichts. Niemand hat mir beigebracht, dass Misserfolge nicht nur etwas Schlechtes sind. Es wurde erst besser, als ich mich für Mädchen interessierte.

Und als Sie Erfolg hatten?

Ich war ein kleiner dicker Junge, fand mich nicht gut aussehend. Der Erfolg war die einzige Motivation. Plötzlich gewinnt man, kriegt eine Prämie – da schaltet man um. Den Lehrern macht man es gut, den Eltern, sich. Meine erste Prämie waren 1000 Mark, mein Vater legte was drauf, ich kaufte mir ein Motorrad. Wahnsinn! Ich habe nicht gemerkt, dass ich gekauft wurde; ich wurde programmiert.

Seine Familie in der DDR wusste nichts von den Fluchtplänen

Als Medaillengewinner waren Sie in der DDR ein Held – und ein Privilegierter.

Es war das Privileg, immer zu funktionieren. Ich konnte nicht ich selbst sein. Wenn ich an einer Bockwurstbude stand, konnte ich nicht mal in der Nase popeln. Ich hatte Haltung zu bewahren und auf jeden zweiten Bierdeckel ein Autogramm zu schreiben. Ich war ein Idol. Irgendwann zerbrichst du an dieser Rolle.

Sie konnten reisen.

Von wegen. Ich durfte das Land nur verlassen, wenn meine Familie als Pfand zu Hause blieb. Wir konnten nicht nach Jugoslawien in den Urlaub fahren, weil die Grenze dort zu durchlässig war. Mit 38 dachte ich: Jetzt kann ich mir die Kugel geben. Beruf ist fertig, Haus ist fertig, ich fahre einen Wartburg – das war’s, alles andere gibt’s nur im Westfernsehen.

Es gibt da ein Zitat von Ihnen: „Im Westfernsehen lief Miami Vice. Und ich dachte: Geil. Miami. Don Johnson. Und was mache ich hier?“

Ja, so war’s. Da bin ich nach Ungarn gefahren und kam als Don Johnson zurück. Ich hatte mir die Haare blond gefärbt, Ohrlöcher stechen lassen. Zu Hause empfing mich mein militärischer Vorgesetzter: Wie siehst Du denn aus? Ich habe die Bilder aus Ungarn gesehen! Die Haare werden sofort umgefärbt! Da wusste ich: Die Stasi hat uns sogar im Urlaub verfolgt. Ich wollte ausbrechen.

Aber Sie haben sich wieder eingereiht.

Jeder wusste ja, wie er das System wieder kriegt: Asche aufs Haupt; ja, Genossen; richtig, Genossen. Nach meiner Sportkarriere studierte ich und wurde Mediziner.

Wie reifte Ihr Entschluss zur Flucht?

Als ich mein Haus umbaute, lernte ich einen Architekten kennen, ein Jugoslawe mit DDR-Pass. Der erzählte mir, was im normalen Leben abgeht, dass die Leute andere Sorgen haben als ein elitärer Sportler. Ich gewann Vertrauen, sprach mit ihm über Politik. Ich fragte mich: Was hält mich hier noch? Ich hatte Probleme in meiner Ehe, sollte als Sportmediziner beim Dopen mithelfen, wollte aber nicht. Er sagte: Ich haue ab – über Jugoslawien nach Österreich. Ich gab ihm meine Papiere mit. Damit er sie mir geben kann, wenn ich einmal im Westen ankomme.

1988 kam die Gelegenheit: Sie betreuten die DDR-Skipringer in Hinterzarten.

Mein Glück war, dass die Skimannschaft damals schlecht sprang und alle Betreuer ausgetauscht wurden. Ich rückte als Arzt nach und arbeitete mit jungen Springern wie Reinhard Heß und Jens Weißflog. In Hinterzarten schüttelte ich die Stasi-Bewacher ab. Und war frei.

Aschenbach heute.

© picture alliance / dpa

Warum hat Sie die Familie nicht in Ihrer Heimat gehalten? Ihre Frau wusste nichts, Ihre Kinder, 12 und 16 Jahre alt, wussten nichts; Ihre Eltern auch nicht.

Darauf zu antworten, ist ganz schwierig. Als Vater verachte ich mich für das, was ich getan habe. Als Partner nicht.

Sie haben später Ihre Familie mit Hilfe der UN aus der DDR herausgekauft, von Ihrer Frau ließen Sie sich scheiden. Wie gehen Ihre Kinder heute mit der Flucht um?

Ich kann das nicht beschreiben. Diese Flucht ist der Verlust von allem, was dir wichtig und wertvoll ist. Weil nur das zählt im Leben: deine Familie. Viele Partner trennen sich vernünftig. Bei mir ging das nicht, weil ich Idol war. Mir war klar: Wenn ich mich scheiden lasse, verliere ich meinen Beruf, meine Position im Sport. Ich dachte: Ich will mich verändern. Also muss ich das Opfer bringen – als Vater. Ich habe mich für mich entschieden. Gegenüber meinen Kindern war es verantwortungslos. Aber es war richtig.

Können Ihre Kinder Sie verstehen?

(schüttelt den Kopf) Sie versuchen es. Wir haben auch versucht, darüber zu reden. Ich habe ein Buch geschrieben, sie haben es gelesen. Die Version der Mutter ist aber eine andere, das prägt die Kinder mehr. Meine Kinder sind jetzt über 30 Jahre alt, aber sie verhalten sich in dieser Frage wie damals, als ich sie verlassen habe: mit Unverständnis.

Die Reaktionen in Ihrer thüringischen Heimat sind ähnlich. In Ihrem Geburtsort Brotterode haben Sie den halben Ort gegen sich, in Suhl wurden Sie bei einer Veranstaltung von hunderten Zuhörern beschimpft.

Die DDR-Presse hat mich damals als Lügner und Verräter dargestellt. Ich finde es erschreckend, dass in Suhl 20 Jahre danach viele am gleichen Punkt stehen wie damals: Der hat unsere DDR verlassen.

Vielleicht liegt die Ablehnung auch darin begründet, dass Sie nach Ihrer Flucht die DDR-Dopingpläne enthüllten. Spitzensportler wie Jens Weißflog und Kristin Otto stellten sich daraufhin im FDJ-Zentralorgan „Junge Welt“ gegen Sie.

Die wollten mich alle vor Gericht zerren. Ich hatte gesagt: Alle DDR-Sportler waren Teil des Maßnahmenplans zum Einsatz unterstützender Mittel. Rüber kam aber: Alle sind gedopt.

Glauben Sie, dass Kristin Otto und Jens Weißflog, die heute beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen arbeiten, gedopt haben?

Glauben? Jeder Nationalkader war Teil des Plans für das Doping. Warum wohl sind Sportler vor jeder Ausreise im Labor in Kreischa kontrolliert worden, ob ihr Urin komisch ist? Jens Weißflog guckt mich heute an wie eine verschreckte Maus: Hoffentlich sagt er nichts, sonst muss ich Stellung beziehen.

Heute leben Sie mit Ihrer zweiten Frau in Freiburg. Ist Thüringen noch Ihre Heimat?

Es ist meine Wiege. Ich rede ja auch noch so.

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