Sport: Kahn sucht Kerle
Bayerns Torwart ist der einzige Münchner, der noch Leidenschaft zeigt
Die Atmosphäre an der Säbener Straße in der Nacht zum Sonntag wirkte gespenstisch. Die Flutlichter beleuchteten das umnebelte Spielfeld, das dumpfe Klopfen, wenn Spieler gegen Bälle treten, störte die nächtliche Ruhe. Als die Belegschaft der Klubgaststätte eiligen Schrittes Picatta Milanese in die Mannschaftskabine des FC Bayern München trug, konnte man einen Blick auf Ottmar Hitzfeld erhaschen – der Trainer saß da mit Lesebrille, vertieft in die Analyse des gerade erlittenen 0:1 des FC Bayern in Aachen. Um 21 Uhr waren die Münchner via Maastricht nach München heimgekehrt und hatten mit einer Nachtschicht die Vorbereitung auf das Duell mit Real begonnen. „Das ist keine Strafmaßnahme“, sagte Hitzfeld, als er um 22.28 Uhr das Areal verließ. Hinter ihm lag dennoch der nächste unschöne Arbeitstag als Münchner Trainer.
„Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen“, erklärte Hitzfeld gestern Vormittag. Da hatte er seine Profis schon wieder zum nächsten Vorbereitungspunkt zitiert. „Man kann nicht immer nur Streicheleinheiten austeilen.“ Dafür ist die Situation in München auch längst zu prekär. Nach der dritten Auswärtspleite in Serie rückt selbst das Minimalziel, die Qualifikation für die Champions League, in weite Ferne. „Ich habe doch Ehre in mir – ich will mir doch nicht in Dortmund, Nürnberg oder Aachen den Hintern versohlen lassen“, schimpfte Oliver Kahn. Der Torwart hatte sich gegen Alemannia als Einziger nicht lethargisch in die Pleite gefügt, und auch am Tag danach nahm er seine behäbigen Kollegen in die Pflicht. „Wir brauchen wieder mehr Kerle.“
Beim Spiel in Aachen hatte er Daniel van Buyten durchgeschüttelt, auf dass dieser endlich verstehe, dass die Bayern längst um ihren nationalen Nimbus kämpfen. Nach dem Abpfiff legte er sich mit Alemannia-Stürmer Sascha Rösler an. Und hätten die van Buytens, van Bommels, Sagnols und Makaays die gleiche Leidenschaft im Herzen und die gleiche Wut im Bauch gezeigt wie ihr zum ohnmächtigen Zuschauen verdammter Torwart, hätten die Münchner in Aachen vielleicht gewonnen. Allein Roy Makaay hatte dazu fünf Chancen jener Qualität, aus denen der Holländer gemeinhin einen Treffer macht. Aber der Meister trat vor allem in der zweiten Halbzeit auf wie eine behäbige Altstar-Mannschaft, die eigentlich keinen Spaß mehr am Fußball in der Provinz hat. „Real kommt gerade recht“, lautete daher auch vom Verteidiger Philipp Lahm bis zum Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge der Ausblick auf das Champions-League-Spiel am Dienstag bei Real Madrid.
Vor dem europäischen Duell zweier kriselnder Spitzenklubs (siehe Kasten) scheint Bayern-Trainer Hitzfeld mehr denn je als Psychologe gefragt. Ein Sieg, zwei Niederlagen lautet die Bilanz seit seiner Amtsübernahme. Die Arbeit mache ihm weiterhin „viel Spaß“, versicherte er, es fehle allein ein echtes Erfolgserlebnis – und der Wille zum Sieg, wie Kahn ihn ausstrahlt. „Zu viele Spielertypen wie Oliver dürfen wir aber auch nicht auf dem Platz haben“, gab Hitzfeld zu bedenken, „sonst artet das in eine Schlägerei aus.“
Heiko Specht[München], Hartmut Scherzer