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Lance Armstrong im Trainingscamp

© Getty

Radsport: Kampf auf offener Straße

Der Radsport ähnelt inzwischen einer Freakshow. Im neuen Jahr gibt Rückkehrer Lance Armstrong die Hauptattraktion und den Zirkusdirektor in einem.

Lance Armstrong wird wieder Vater. Zum vierten Mal. Er hat bereits drei Kinder mit seiner früheren Frau Kristin, jetzt ist seine Freundin Anna Hansen schwanger. Das ist eine wichtige Nachricht.

Das Kind soll im Juni zur Welt kommen, und die Meldung von der Geburt wird dann ebenso unter dem Ressort Sport über die Nachrichtenticker laufen wie die von der Schwangerschaft. Wenn es um die Person Lance Armstrong geht, gibt es keine Genres. Schon gar nicht im Jahr 2009, in dem der Meister zurückkehrt. Um den Radsport zu Grunde zu retten.

Als er vor ein paar Monaten verkündete, nach drei Jahren wieder aufs Rad zu steigen, war plötzlich alles anders. Neue Aufmerksamkeit war dem dahinsiechenden Radsport garantiert. Armstrong verknüpfte sein Comeback eng mit der Arbeit seiner Krebsstiftung, seine Mitteilung war überschrieben mit „Lance Armstrong, cancer survivor and seven-times winner of the Tour de France“, und das Beste an seinem Comeback wird sein, dass es tatsächlich Geld für die Stiftung einbringt. Schnell warf Armstrong aber auch seine andere PR-Maschinerie an, und vom ersten Tag an bestimmte er wie früher, worum es ab jetzt geht: um ihn.

Startet er überhaupt bei der Tour de France oder nicht? Wird der 37 Jahre alte Rückkehrer nach drei Jahren Pause der unumschränkte Kapitän im in Sachen Doping alles andere als gut beleumundeten Team Astana sein oder, unvorstellbar, dem neuen Überfahrer Alberto Contador zuarbeiten und ein gereifter Teamplayer sein? Und warum weigert er sich weiterhin, seine positiven Dopingproben von 1999 noch einmal untersuchen zu lassen? Wann fährt er zum ersten Mal wieder? Armstrong bestimmt die Kommunikation darüber. Er hat auch schon einmal damit kokettiert, Gouverneur von Texas werden zu wollen, Fähigkeiten dafür besitzt er. Nahezu jeden Tag gibt es irgendeinen neuen Sachstand und eine wichtige Meldung wie die, dass er Anfang November ein Zeitfahren gewinnt. Mit souveränen 1:43 Minuten Vorsprung vor dem texanischen Straßenmeister. Aus der Altersklasse 45 bis 49 Jahre.

Bei der Georgia-Rundfahrt startet er nicht. Sie wird abgesagt, nur mit Armstrong hätten sich die Sponsorenprobleme beseitigen lassen. Die Organisatoren der Tour Down Under in Australien brechen hingegen lauthals in Jubel aus, als Armstrong zusagt, dort ab dem 20. Januar sein offizielles Comeback zu geben. Eigentlich dürfte er dort gar nicht starten, weil er sich nicht rechtzeitig wieder in das Anti-Doping-Programm integriert hat. Es geht nur um ein paar Tage, aber ganz sicher würde kein anderer Fahrer eine solche Ausnahmegenehmigung bekommen. Schließlich hat Armstrong ein Selbsttestprogramm mit dem (von ihm bezahlten) renommierten Anti-Doping-Experten Don Catlin angekündigt, seine Blutwerte sollen jederzeit im Internet abrufbar sein. Bisher ist es eine Ankündigung geblieben. Egal, denn alle sind erleichtert, dass er wieder da ist. Weltverbandspräsident Pat McQuaid ist sich sicher, dass „Armstrong kein Betrüger ist“. Er ist genauso froh wie alle anderen, dass Armstrongs Comeback und die Geschichten drumherum mindestens ein Jahr lang alle Probleme überlagern.

Denn ob Armstrong gedopt ist oder gedopt hat, ist gar nicht die entscheidende Frage. An einen ungedopten Tour-Sieger glauben ohnehin nur noch hoffnungslose Romantiker oder notorische Ignoranten, und damit ist es auch irgendwie egal geworden. Die Freude am Zuschauen beim Radsport ähnelt inzwischen der bei einer Freakshow, und Lance Armstrong ist Hauptattraktion und Zirkusdirektor in einem. In Zeiten, in denen sich viele mit Koffein, Aspirin, Kokain dopen, ist es doch spannend, den zu beobachten, der es mit Hilfsmitteln so weit gebracht hat, immer noch ganz oben steht und die anderen nach seiner Pfeife tanzen lässt. „Viele Mannschaften richten ihren Einsatzplan nach den Starts von Armstrong, weil da der große Medienauflauf sein wird“, sagt Erik Zabel, der auch daran glaubt, dass es sich ARD und ZDF mit dem Verzicht auf die Live-Übertragungen von der Tour de France noch einmal überlegen. Zabel fährt Ende Januar sein letztes Abschiedsrennen und wird nicht mehr dabei sein, wenn nicht nur Armstrong, sondern auch die anderen vom Ancien Régime zurückkehren und Ivan Basso et al. so tun, als ob die alte Ordnung mit dem alten Chef eine tragfähige Lösung wäre.

Der Herbst der Patriarchen – darauf hoffen die, die versuchen, das bestehende, Jahrzehnte alte System von innen heraus zu verändern, obwohl das alte Personal noch da ist. Doch als sich der junge deutsche Fahrer Linus Gerdemann erdreistete anzumerken, dass der Name Armstrong in der Presse immer mit Doping in Verbindung gebracht werde und das nicht hundertprozentig gut für den Radsport sei, ließ ihn Armstrong spüren, wer das Sagen hat: „Ich bin schon lange dabei, und ich weiß nicht, wer zur Hölle Linus Gerdemann ist.“ Er solle hoffen, nicht mit ihm in einer Fluchtgruppe zu sein. Schon früher hat Lance Armstrong anderen Fahrern gezeigt, wie schwer es sein kann, wenn einen das Peloton bedrängt. Und das hält zu Armstrong. Gerdemann spiele sich als Retter des Radsports auf, ihm fehle es an Respekt, sekundierte etwa der brave Untertan Andreas Klöden.

Dabei fürchtet Armstrong selbst wie ein Diktator, der aus dem Exil zurückkehrt, um seine persönliche Sicherheit und erhöht seine Position deshalb noch einmal. „In Frankreich gibt es aggressive Emotionen gegen mich, und Radsport wird auf offener Straße ausgetragen“, sagt Armstrong und fragt sich rhetorisch, ob er seine Gesundheit aufs Spiel setzen müsse. Er wird es tun – schon im Mai beim 100. Geburtstag des Giro d’Italia, der ihm früher vor der Tour im Juli noch zu stressig war. Nach den beiden großen Rundfahrten finden ein paar kleinere Showrennen mit vielen Runden statt, bei denen sich traditionell die Stars dem Publikum präsentieren. Doch diese „Kirmesrennen“ genannten Veranstaltungen sind in diesem Jahr eigentlich obsolet.

So viel Jahrmarkt war nie.

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