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Mysterium. Seitenstechen kommt gerade beim Marathon ungelegen.

© Michaela Øíhová/dpa

Kolumne "Losgelaufen": Das Mysterium Seitenstechen

Unser Autor hat zuletzt unliebsame Bekanntschaft mit Seitenstechen gemacht. Die Wissenschaft steht bei der Ursache dafür noch immer vor einem Rätsel.

Noch ein paar Hundert Meter bis zum Ziel, und ich laufe vorneweg! Zwölf Kilometer ist die Checkpoint-Laufgruppe durch den Garten am Schloss Charlottenburg gelaufen, jetzt hecheln die Kollegen hinter mir her. Eigentlich könnten wir locker zum Auto joggen und uns auf die Getränke freuen. Doch mal ehrlich: Nirgends prahlen Läufer mehr als beim Endspurt. Also Vollgas!

Ich bin schon auf der Zielgeraden, da spüre ich den Schmerz. Nur ganz kurz hat er sich mit einem dumpfen Druck angekündigt, jetzt sticht es in der Seite. Sofort muss ich Tempo herausnehmen, die anderen ziehen an mir vorbei. Ich tue so, als sei das Ganze von mir geplant gewesen. Laufe mit lockerem Gesichtsausdruck und nicht allzu gekrümmt aus.

Seitenstechen. Der Albtraum aller Läufer. Es kann einen immer und überall treffen. Hobbyläufer wie Profisportler. Ein Phänomen, für das ich kein Muster erkenne, das mir aber schon als Kind begegnete. Damals kannten wir auf dem Bolzplatz zwar kein Laktat, aber Seitenstechen. Später litt ich noch ab und zu beim Dauerlauf, doch seit ein paar Jahren dachte ich, dass ich von dem mysteriösen Schmerz geheilt sei. Bis zu jenem warmen Juniabend im Schlossgarten.

Anruf bei Doktor Paul Schmidt-Hellinger. Er arbeitet am Lehrstuhl für Sportmedizin an der Humboldt-Universität und ist selbst schon Marathon in 2:19 Stunden gelaufen. Die Ursache für Seitenstechen? „Die Wissenschaft steht da noch immer vor einem Rätsel“, sagt er. Dabei sei das Phänomen altbekannt. „Bereits 1927 wurde das Thema in der ,Deutschen Medizinischen Wochenschrift‘ behandelt“, sagt Schmidt-Hellinger. Danach sei Seitenstechen nochmals in den 50er Jahren und vor allem in den vergangenen 15 Jahren parallel zum Laufboom diskutiert worden.

Zweifel an Theorie zum Seitenstechen

„Im Moment ist eine Reizung im Bereich des Bauchfells die wahrscheinlichste Theorie“, sagt der Mediziner. Beim Bauchfell – Fachbegriff Peritoneum – handelt es sich um die dünne, durchsichtige Haut, die um die Organe gespannt ist. Wenn die Organe gedrückt oder die Bänder gezogen würden, verursache dies einen Schmerz. Betroffen seien deshalb vor allem Menschen mit einer schwachen Bauchmuskulatur – und besonders in Sportarten, die mehr Vibration ausgesetzt sind. Beim Basketball, Reiten oder Laufen. Beweisen könne man das aber nicht. „Wir können ja niemandem den Bauch aufschneiden, wenn er gerade Seitenstechen hat“, sagt Schmidt-Hellinger.

Überhaupt gibt es auch an dieser Theorie Zweifel. Andere Forscher gehen von Blähungen oder Zwerchfellreizungen als Ursache aus, einer sportmedizinischen Studie von 2015 zufolge haben selbst trainierte Profisportler Seitenstechen. Ebenso klagen Schwimmer und Radfahrer, die wenig Vibration ausgesetzt sind, über das Phänomen. Den Wissenschaftlern zufolge tritt Seitenstechen etwas häufiger bei Männern und Pubertierenden auf und sticht eher in der rechten Körperhälfte. Ihr Fazit in dem 13-seitigen Essay: „Es bedarf weiterer Untersuchungen.“

Medizin gegen Seitenstechen? Doktor Paul Schmidt-Hellinger läuft selbst Marathon.
Medizin gegen Seitenstechen? Doktor Paul Schmidt-Hellinger läuft selbst Marathon.

© promo

Was aber tun, wenn der Schmerz unvermittelt auftaucht? Schmidt-Hellinger rät dazu, Tempo herauszunehmen und langsam tief ein- und auszuatmen. Vorbeugend empfiehlt er, wenig zu essen und auf hypertone Getränke wie Cola, Limonade oder Fruchtsäfte vor dem Training zu verzichten. „Hypertone Getränke brauchen länger durch den Magen-Darm-Trakt und ziehen zunächst Wasser in den Darm. Deswegen kann es vorkommen, dass das Bauchfell an Gleitfähigkeit verliert und über die Organe reibt“, sagt er. Eine Garantie zur Seitenstech-Vermeidung kann er damit aber nicht aussprechen.

Zum Abschluss verrät mir der Arzt immerhin noch etwas Beruhigendes: „Je älter man wird, desto seltener bekommt man Seitenstechen.“ Ich bin also auf einem guten Weg! Noch 72 Tage bis zum Berlin-Marathon.

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