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Aufstiegheld: Michael Tönnies schoss den MSV Duisburg von der Amateur-Oberliga zurück in die Bundesliga.

© Imago

Michael Tönnies: Ein Held ist auch nur ein Mensch

Rund zwei Jahre lang hat unser Autor den ehemaligen Bundesligaprofi Michael Tönnies begleitet und über dessen bewegtes Leben ein Buch geschrieben, das im Jahr 2015 erschienen ist. Jetzt, am 26. Januar 2017, ist Michael Tönnies gestorben.

Er öffnet die Tür – und auf einen Schlag bin ich wieder sieben. Da steht er nun vor mir. Mit weit aufgerissenen Augen schaut er mich an, staunend, etwas verärgert, finde ich. So als sei ich ein lästiger Staubsaugervertreter oder bettelte um Futtergeld für Zirkustiere.

„Hallo, Herr Tönnies“, sage ich und denke: Wahnsinn, der Tönnies!

„Ja, komm’n Sie rein“, sagt er. Ganz freundlich.

Rund zwei Jahre ist das nun her. Wir haben uns zu einem Interview verabredet. Es wird der Auftakt einer ganzen Reihe von Treffen sein, die dazu führen, dass ich schließlich ein Buch über sein bewegtes Leben schreiben werde. Anfangs soll es nur um den MSV Duisburg gehen, der damals nach dem Lizenzentzug vor dem Absturz in den Amateurfußball steht. Die Hoffnung heißt Dritte Liga. Es wäre ein tiefer Fall, aber keine Katastrophe. Denn so tief war der MSV schon einmal Ende der 80er Jahre, als Tönnies nach Duisburg kam.

Das ewige Talent und der abgestürzte Traditionsverein – das passte. Mit seinen Toren schoss er den MSV zurück in die Bundesliga. In dieser Zeit, am 27. August 1991, hat mich mein Vater zum ersten Mal ins Wedaustadion mitgenommen. MSV Duisburg gegen den Karlsruher SC.

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Mein Vater hat mich nicht zu seinem Lieblingsverein gedrängt. Nur eines hat er mir damals gesagt: dass es viel besser sei, für die Außenseiter zu sein. „Für Bayern kann jeder sein“, sagte er. „Um zu den Kleinen zu halten, muss man stark sein.“ Und weil sie so klein seien, müssten sie den Großen die Siege klauen, so wie Robin Hood. Damit hatte er mich, denn Robin Hood war mein Held. Ein Räuber mit Herz. Einer, der die Reichen beklaute, um die Beute den Armen zu geben. Und diese Duisburger Mannschaft erschien mir wie eine ganze Räuberbande, mit ihren Vokuhila-Frisuren und Schnurrbärten. In ihren blau-weiß-gestreiften Trikots sahen sie aus wie die Legopiraten in meinem Kinderzimmer. Und der Allerkühnste von ihnen war Michael Tönnies. Der Torjäger. Ein Mann mit zwei Spitznamen. „Tornado“, nannten sie ihn oder auch: „Dicker“. Wer ihn jemals spielen sah, weiß, dass das kein Widerspruch war.

Tönnies schoss mit drei Toren in fünf Minuten den schnellsten Bundesliga-Hattrick

Es war an diesem Augustabend, als das Schicksal es wollte und KSC-Verteidiger Dirk Schuster es zuließ, dass Michael Tönnies das Spiel seines Lebens machte. In fünf Minuten schoss er drei Tore gegen einen jungen, kaum bekannten Torwart namens Oliver Kahn. Drei Tore in fünf Minuten – bis heute ist es der schnellste Hattrick der Bundesligageschichte. Tönnies traf noch zweimal und bereitete einen weiteren Treffer vor. Am Ende gewann der MSV mit 6:2. Der „Dicke“ und seine Bande hatten alles mitgenommen. Die Kleinen hatten gewonnen. Und ich war dabei gewesen. Ich gehörte zu ihnen.

Auf dem Bolzplatz spielte ich seine Tore nach und fühlte mich unbesiegbar. Mit sieben ist die eigene Welt noch klein und doch so reich. Auch wenn der Horizont der Gitterzaun des Bolzplatzes ist, sind die Niederlagen und Siege, die man dort erlebt, so tief greifend wie vielleicht nie wieder. Schon ein aufgeschlagenes Knie kann diese Welt in ihren Grundfesten erschüttern, und ein Eis kann sie wieder retten. Und Helden haben es leicht, übermenschlich groß zu wirken.

Wohl jeder hat Helden in seiner Kindheit gehabt. Für die fußballbegeisterten Kinder der Kriegsgeneration war es vielleicht Helmut Rahn, der WM-Torschütze von 1954. Für die Kinder der 50er und 60er Jahre – so wie Michael Tönnies – war es Günter Netzer. Was Netzer für ihn war, war er für mich. Viele Kindheitshelden werden irgendwann vergessen oder verklärt. Die wenigsten treffen ihre Helden tatsächlich und müssen sich mit dem Menschen hinter dem Heldenbild auseinandersetzen. Mir ist es passiert.

Bei unserem ersten Treffen im Sommer 2013 erzähle ich ihm davon und frage ihn: „Wissen Sie eigentlich, was Sie damals angerichtet haben?“

Er zuckt mit den breiten knöchrigen Schultern und grinst verlegen. „Da läuft das Schicksal“, sagt er und fügt entschuldigend hinzu: „Ich habe mich in die Herzen der Fans geschossen.“

Kann so einer noch ein Held sein – mit all seinen Schwächen als Mensch?

Doch so fulminant der 27. August 1991 für Michael Tönnies war, so einmalig war er auch. Es war der späte Höhepunkt einer Karriere, die in der Jugend des FC Schalke 04 begonnen hatte und danach als Odyssee durch die Oberliga zu Ende zu gehen schien. Immer wieder hatten ihm Trainer und Mitspieler bescheinigt, was für ein Talent er habe, doch er unterwarf sich den eigenen Zweifeln – schaffste eh nicht, sagte er sich. Stattdessen lenkte er sich ab und trieb sich in den Kneipen und Spielotheken des Reviers herum. Er zockte, er rauchte und soff.

Vor unserem ersten Treffen im Sommer 2013 habe ich mich gefragt, wie es sein würde, wenn ich ihm endlich begegne, ihm, dem Menschen, der der Held meiner Kindheit war. Ich fragte mich: Kann man zu jemandem aufschauen, der am Boden ist? Kann so einer noch ein Held sein – mit all seinen Schwächen als Mensch?

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Nach dem 6:2 ging es mit ihm allmählich bergab. Am Ende der Saison stieg der MSV ab. Die Räuber verschwanden. Auch Tönnies. Als ich im Sommer darauf das Kicker-Sonderheft durchblätterte, blieb ich am Mannschaftsfoto des Wuppertaler SV hängen. Wie ein Fremdkörper wirkte er dort in diesem rotblauen Trikot. Er hatte mich verlassen. Danach verlor ich ihn für viele Jahre aus den Augen. Zum MSV ging ich weiterhin, immer in der Hoffnung, wieder solch einen Moment zu erleben wie damals im August. Vergeblich. Ab und zu hörte ich, Tönnies habe sich zurückgezogen. Es waren nur Stichworte, die übrig blieben. Kneipe. Pleite. Lungenkrank. Und dann kam dieses Interview. Zum 20. Jubiläum des Hattricks. Er erzählte von seinem Leiden, einem Lungenemphysem; bei jedem Atemzug fürchtete er, es könne sein letzter sein. Nur eine Transplantation konnte ihn noch retten. „Aber ich bin ein Angsthase und glaube, dass es sowieso nichts wird“, sagte er. Er hatte sich längst aufgegeben.

Nicht so die MSV-Fans. Sie wollten ihre Legende nicht aufgeben. Sie gestalteten ein Album, in dem jeder dem „Dicken“ Mut zusprechen konnte. Im Fanforum schrieben sie von ihren Erlebnissen mit ihm, vom Aufstieg 1991, vom Hattrick. Davon, dass sie als Kinder sein wollten wie er. Und ich las mit. Es war, als liege auch ein Teil meiner Kindheit in den letzten Atemzügen, doch ich wusste nicht, was ich ihm schreiben sollte. Es war wie ein Autounfall in Zeitlupe, ich tat nichts, schaute nur zu. Ich las davon, wie sie ihm das Album überreichten. Wie gerührt er war, dass sich überhaupt noch jemand an ihn erinnerte. Und wie er einige Zeit später beschloss, sich doch operieren zu lassen. Es folgte ein anderthalb Jahre dauernder Kampf. Mit unzähligen Untersuchungen, kleinen Hoffnungsschimmern und großen Rückschlägen. Als er nach drei Fehlversuchen 2013 endlich nach der erfolgreichen Transplantation wieder erwachte, jubelte ganz Duisburg. Bis zum Absturz des MSV. Es war der Tag, an dem Michael Tönnies nach Hause zurückkam.

Über das Auf und Ab seines Lebens sagt Tönnies: "Labilität war meine große Stärke"

Der Mensch, auf den ich im Sommer 2013 treffe, ist gerade erst dem Tod entgangen und hat sich dennoch die entwaffnende Unbedarftheit eines Kindes bewahrt. Wie schonungslos er über die Fehler seines Lebens redet, über all die verpassten Chancen und falschen Entscheidungen. Ohne zu hadern, stets mit einem Schuss Selbstironie. „Labilität war meine große Stärke“, sagt er.

Es ist wohl zugleich seine größte Schwäche und Stärke, dass er sich selbst nie allzu wichtig genommen hat. So hat er zwar nicht das erreicht, was er hätte erreichen können. So hat er es aber auch geschafft, seine Würde zu bewahren.

Zweite Luft. Michael Tönnies als Stadionsprecher beim MSV Duisburg.
Zweite Luft. Michael Tönnies als Stadionsprecher beim MSV Duisburg.

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Michael Tönnies ist es unangenehm, wenn man ihn mit dem Heldenstatus konfrontiert. „Ich will gar keiner sein“, sagt er, „ich bin stinknormal.“ Er ist kein klassischer Held, keiner, der sich aufgelehnt hat. Kein Rebell. Als Spieler war er höchstens ein Verweigerer, der es sich gern so einfach wie möglich machte.

Mittlerweile ist er einer von zwei Stadionsprechern beim MSV. Vor jedem Spiel intoniert er auf dem Rasen die Aufstellung gemeinsam mit den Fans. Was sie ihm noch höher anrechnen als seine früheren Tore, ist, dass er sich zurückgekämpft hat. Dass er seinen größten Zweifler bezwungen hat – sich selbst. Und vor allem, dass Michael Tönnies zurückgekehrt ist, als es dem Verein am dreckigsten ging. Denn um zu den Kleinen zu halten, muss man stark sein.

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Am 26. Januar 2017 ist Michael Tönnies im Alter von 57 Jahren gestorben.

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Buchempfehlung: Jan Mohnhaupt: Auf der Kippe. Die zwei Leben des Michael Tönnies. Verlag Die Werkstatt. 232 Seiten, 19,90 Euro.

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