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Fliegen kann so schön sein. Wenn aber der Ablauf nicht passt, wird die Luftfahrt auf zwei Skiern zum Risiko für Leib und Leben.

© Matthias Schrader/dpa

Skispringen: Die Angst vorm Absprung

Skispringen ist eine Risikosportart, die ihre Protagonisten oft an die Grenzen treibt. Speziell nach einem Sturz ist die mentale Belastung extrem.

Von David Joram

Worum es geht, spricht Christian Uhl am Ende des Gesprächs aus: „Skispringen ist eine Sportart, in der ich sterben kann“, sagt er. Uhl, 45, muss es wissen. 13 Jahre lang, von 2003 bis 2016, hat der Sportpsychologe die österreichischen Springer begleitet, die „Super-Adler“, wie sie gern genannt werden. Uhl hat Olympiasiege miterlebt, Weltmeistertitel, Vierschanzentourneesiege. In Serie. Uhl hat ein paar Adler aber auch spektakulär abstürzen sehen. „Die Spanne vor einem Sprung ist extrem: Einerseits muss ich voll fokussiert sein, anderseits geistig frei wie ein Vogel. Die Herausforderung, die ständige Balance zu finden, ist groß.“ Und die größte Angst, die viele haben, die mal gestürzt sind – ist die Angst selbst. Sie zu besiegen, ist die große Kunst, weil es gleichzeitig eine Wissenschaft ist, die bei jedem Springer anders wirkt. „Es geht um Urinstinkte, um ein hohes Vertrauen und darum, wieder eine hohe positive Stimmung aufzubauen“, sagt Uhl. Aber geht das so einfach?

Wenn an diesem Samstag (Großschanze Einzel, 14.30 Uhr, ARD) die erste Entscheidung für die Männer bei der Weltmeisterschaft am Bergisel in Innsbruck ansteht, ist Uhl nicht mehr ganz so dicht dabei. Trotzdem weiß er, was die kommenden Weltmeister haben müssen; er nennt es „Funktions-Lust“, ein Begriff aus der Verhaltensbiologie. Wenn sie stimmt, entsteht das, was die Springer einen „Flow“ nennen, jenes wunderbare Gefühl, mit dem etwa der Japaner Ryoyu Kobayashi in dieser Saison gesegnet ist. Scheinbar mühelos gewann er alle vier Springen der Vierschanzentournee, auch in Seefeld gilt der 22-Jährige als Favorit. Uhl erklärt: „Die Funktions-Lust entsteht, wenn sich Unsicherheit in Sicherheit verwandelt. Wenn ein Kind zum Beispiel lernt, selbstständig Fahrrad zu fahren, will es gar nicht mehr runter vom Rad, weil das Gefühl so gut ist.“

Vier Schritte bis zum Comeback

Nur findet Skispringen bevorzugt in der Luft statt. Der Grad zwischen perfekter Luftfahrt und üblem Absturz ist schmal, das Risiko enorm. Christian Uhl hat das mehrmals aus der Nähe miterlebt, zweimal mit dem einstigen Weltklassespringer Thomas Morgenstern. 2003 und 2014 stürzte dieser regelrecht vom Himmel, zweimal gingen die Unfälle halbwegs glimpflich aus – der Springer überlebte. „Beim ersten Mal in Kuusamo hat er sich ein, zwei Tage später immer und immer wieder den Sturz angeschaut – aus psychologischer Sicht eigentlich ein ,No go’“, sagt Uhl. Aber es habe eben zu Morgenstern, einem „positiven Typen“, gepasst, den Unfall so aufzuarbeiten.

Das sei aber nur der erste Teil auf dem Weg zum Comeback gewesen. „Die saubere Analyse“, die im Team mit Trainern, Medizinern und Physiotherapeuten stattfand, sei ein weiterer Schritt gewesen, bevor „methodischer Aufbau“ – mit Starts auf kleinen Schanzen in einem vertrauten Umfeld – und die „systematische Eingliederung“ erfolgt seien. Systematische Eingliederung, „das heißt, dass man sich schrittweise an immer größere Schanzen traut und die Schanzen so auswählt, dass positiv assoziierte Gefühle damit verbunden sind.“ Uhl findet: „Bei Morgenstern hat das Team eine saubere Arbeit geleistet.“

2014, als es Morgenstern auf der Skiflugschanze am Kulm erneut aus dem Flug riss, klappte nichts mehr. Die Angst habe ihn ausgesaugt, erklärte er dem „Spiegel“ später in einem bemerkenswerten Interview. „So ein Erlebnis auf Dauer aus dem Kopf zu kriegen, ist extrem schwierig“, sagte Morgenstern und verglich seinen Crash mit einer Autofahrt, auf der bei Tempo 150 der Reifen platze.

Es gibt auch eine wissenschaftliche Erklärung. Der Teamarzt der deutschen Springer, Mark Dorfmüller, sagt: „Bei einem Sturz kann es sein, dass sich auch die Rezeptoren verletzen. Die Aufnahme von Reizen fällt einem dann schwer.“ Ein Skispringer müsse nach einem Sturz aber wieder eine „Tiefensensibilität“ erlangen, ein Gefühl für die Stellung im Raum bekommen. „Man darf nie vergessen: Das Gehirn steuert die Bewegung, nicht der Muskel. Da geht es zum Beispiel um den Gleichgewichtssinn, der nach einem möglichen Schädel-Hirn-Trauma beschädigt sein kann.“ Vieles habe mit bio-chemischen Prozessen zu tun, die komplex seien und teilweise noch unerforscht. „Es gibt Footballer, die Jahre nach ihrer Karriere depressiv werden“, erklärt Dorfmüller – „und keiner weiß wirklich, warum das so ist.“

Beim Skispringen könne es sein, dass Springer die Angst nach einem schweren Erlebnis auf der Schanze nicht mehr losbekommen – so wie das bei Morgenstern der Fall war, der Olympia 2014 zwar noch meisterte, dann aber seine Karriere beendete. „Die Angst hat mich gehemmt, ich konnte keine Höchstleistung mehr bringen“, sagte er rückblickend.

- Nordische Ski-WM, Skispringen live im TV: Samstag 23. Februar 2019: Männer Großschanze Einzel, 14.30 Uhr (ARD); Sonntag, 24. Februar 2019: Männer Team, 14.45 Uhr (ARD); Mittwoch, 27. Februar 2019: Frauen Normalschanze Einzel, 16.15 Uhr (ZDF); Samstag 2. März 2019: Mixed Team, 16 Uhr (ZDF).

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