Sport: Unsichtbare Stärke
Bei Hertha BSC machen Gimenez und Pantelic selbst einen Künstler wie Marcelinho vergessen
Berlin - Marcelinho lief vom Platz und schlug die Hände über dem Kopf zum Beifall. Dieses eine Mal pfiffen die Fans von Hertha BSC nicht. Sie hatten genug damit zu tun, den 2:1-Sieg über den VfL Wolfsburg zu feiern, die Mannschaft, deren Trikot ihr einstiges Idol Marcelinho jetzt trägt. Der Brasilianer ärgerte sich ein wenig darüber, dass 90 Minuten lang jede seiner Aktionen von Pfiffen begleitet worden war: „Ich hatte schon erwartet, dass die Zuschauer mich ein bisschen freundlicher empfangen.“ Spaß hatte es ihm trotzdem gemacht. Marcelinho lachte und gestikulierte, ein paar Grashalme hatten sich keck auf die weißen Schuhe gelegt. Letzte Spuren eines Kampfes, den Marcelinho lange Zeit leidenschaftlich geführt und am Ende verloren hatte.
Zum Auftakt der Bundesliga-Rückrunde im Berliner Olympiastadion war Marcelinho gut eine Stunde lang der auffälligste Mann auf dem Platz. Seine Präsenz belebte das Wolfsburger Spiel und, interessanter noch, sie schien die Spieler zu lähmen, die seine Nachfolge in Berlin angetreten haben. Yildiray Bastürk und Ashkan Dejagah mühten sich, aber eben diese Mühe war ihnen zu deutlich anzusehen. Nichts Leichtes, Verspieltes prägte ihre Aktionen. Dejagah und Bastürk machten einfache Dinge kompliziert. Marcelinhos Kunst bestand darin, komplizierte Dinge einfach aussehen zu lassen: Tempowechsel, Dribblings, Kurz-und Langpassspiel. Er provozierte und trat den Freistoß, der zum Wolfsburger Führungstor führte. Als Marcelinho einmal seinen unbequemen Gegenspieler Pal Dardai überlief, wirkte das so mühelos, als hätte der Berliner Ungar eine Bleiweste getragen.
„Er hat gespielt, als wäre er schon ein paar Monate bei uns“, sagte sein neuer Trainer Klaus Augenthaler. Marcelinhos Spiel ist so angelegt, dass es auf Anhieb die Qualität jeder Mannschaft steigern kann, die über eine flache Hierarchie verfügt. Spieler wie der Argentinier Menseguez oder der Slowake Karhan sind mit Talent gesegnet, aber eine gestaltende Rolle lässt ihr Phlegma nicht zu. Marcelinho ordnete die Zuarbeit seiner selbstlosen Mitarbeiter. Ein Mann seiner Qualität hat dem VfL Wolfsburg gefehlt.
Genau so eine Mannschaft aber wollte Hertha BSC nicht mehr sein. Eine Mannschaft, die von der Tagesform und den Launen eines Mannes lebt, weil dieser die zentrale Rolle im Gefüge einnimmt. Am Ende litt auch Wolfsburg unter der Dominanz seines neuen Dirigenten. Es war das alte Hertha-Syndrom: Solange es bei Marcelinho läuft, prosperiert auch das Kollektiv. Aber wehe, er lässt nach. „Marcello ist ein hervorragender Spieler, aber nach 70 Minuten war er platt“, befand Dardai. In den verbleibenden zwanzig Minuten ging Wolfsburgs Ordnung verloren. Hertha nutzte das zum alles entscheidenden Schlag. Als kurz vor Schluss das Siegtor fiel, hatte Marcelinho längst vor dem von ihm vorgegebenen Tempo kapituliert. „Eigentlich wollte ich ihn ja auswechseln“, sagte Augenthaler, aber er habe es nicht über Herz gebracht. Nicht in diesem ersten Spiel, ausgerechnet in Berlin.
Falko Götz kennt diese Situationen. Es hat in den vergangenen Jahren oft Ärger gegeben, wenn der Berliner Trainer einen nachlassenden Marcelinho vom Platz holte. Die Streitigkeiten der beiden sind Legende. Als Götz am Samstag behauptete, „dass unsere Individualität das Quäntchen war, das den Unterschied gemacht hat“, wirkte das zunächst wie ein billiger Tritt gegen den Individualisten Marcelinho. Doch Götz hatte Recht.
Es war die individuelle Stärke, die am Ende den Ausschlag gab für Hertha. Aber es war nicht die individuelle Stärke der Gestalter. Es zeichnet Hertha BSC in der ersten Saison ohne Marcelinho aus, dass die Mannschaft auch dann ein Spiel gewinnen kann, wenn auf der zentralen Position wenig zusammen läuft. Der entscheidende Mann war am Samstag über weite Strecken kaum zu sehen. Christian Gimenez’ Stärke ist die Unauffälligkeit. Sein Tor zum 1:1 mag wie ein Dutzendtor ausgesehen haben: ein Schuss aus zehn Meter Torentfernung, vorbei am Wolfsburger Torhüter Jentzsch. So einfach, und doch so schwer.
Gerd Müller hat das Geheimnis eines erfolgreichen Stürmers einmal so beschrieben: „Du musst nicht am Torwart vorbei zielen, sondern ins Tor.“ Es ist diese Kunst des Einfachen, des vermeintlich Selbstverständlichen, in der sich die Klasse des Argentiniers Gimenez manifestiert. Wahrscheinlich würde der Hamburger SV irgendwo im offensiven Mittelfeld der Tabellen mitspielen, wenn er einen Mann hätte, der die einfachen Bälle mit der Gimenez eigenen Sicherheit verwandelt. In der Bundesliga besitzt diese Gabe sonst nur noch der Münchner Podolski.
Ein zweites Tor blieb dem Argentinier verwehrt, weil Wolfsburgs Torhüter Jentzsch seinen Schuss „mit einer Weltklasse-Parade“ (Herthas Manager Dieter Hoeneß) um den linken Pfosten lenkte. Und weil beim nächsten Versuch, kurz vor dem Schlusspfiff, der Wolfsburger Abwehrchef Hofland Gimenez’ Sololauf regelwidrig stoppte. Marko Pantelic, Herthas zweite torgefährliche Begabung im Strafraum, verwandelte den fälligen Elfmeter zum Berliner Siegtor.
Mit seiner aggressiven Körpersprache ist Pantelic der Gegenentwurf, die perfekte Ergänzung zu Gimenez. Einer von beiden trifft immer. Hertha hat in dieser Saison in 14 von 18 Spielen gepunktet, nur zweimal ging das Angriffsduo leer aus: beim 1:1 in Mainz und beim 2:1 in Dortmund. Auch Bastürk kann an guten Tagen ein Spiel entscheiden, der 20-jährige Dejagah ist auf dem besten Weg dorthin. Den Erfolg gegen Wolfsburg fasste der unauffällige Individualist Christian Gimenez in einen Satz, der ein exaltierter Künstler wie Marcelinho so wahrscheinlich nie sagen wird: „Wir haben zusammen gearbeitet.“ Herthas Individualität hat eine breitere Basis bekommen.