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Timo Boll bei den Olympischen Spielen in Paris 2024. Bei olympischen Spielen gewann er insgesamt vier Medaillen.

© dpa/Marijan Murat

„Wie eine große Liebe – und die betrügt man nicht“: Timo Bolls emotionaler Abschied aus dem Tischtennis

Am Sonntag spielt Timo Boll ein letztes Mal um die deutsche Meisterschaft. Mit ihm verlässt eine besondere Persönlichkeit die Bühne des Sports, wie ein Blick auf die Höhepunkte seiner Karriere zeigt.

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Ein Leben, ohne jeden Tag den Tischtennisschläger in die Hand zu nehmen? Fast unvorstellbar für jemand, der damit schon als Dreijähriger angefangen und abends mit seinem Vater im Hobbykeller noch ein paar Ballwechsel im Schlafanzug gespielt hat. Und dessen Beruf es geworden ist, Spiele auf der ganzen Welt zu spielen, seit fast 30 Jahren.

Jetzt steht sein allerletztes an, mit 44, am Sonntag in Frankfurt am Main, das Play-off-Finale um die deutsche Meisterschaft mit seinem Verein Borussia Düsseldorf gegen die TTF Ochsenhausen. Ganz gleich wie es ausgeht, es wird hochemotional für Timo Boll und alle, die diesen Abschied begleiten.

Denn es geht am Sonntag nicht einfach nur eine Karriere zu Ende, und mag sie noch so lang und erfolgreich gewesen sein. Mit Timo Boll verlässt eine besondere Persönlichkeit die aktive Bühne des Sports, ein feiner und fairer Mensch, der sich selbst nicht über andere stellt, der zeigt, wie es gehen kann, auch bei Niederlagen ganz bei sich und mit sich im Reinen zu sein, der anderen Respekt entgegenbringt, seinen Gegnern, den Zuschauern und seinem Sport.

Es gibt Szenen, die das illustrieren. Eine ist schon 20 Jahre her und dennoch unvergessen. Bei der Weltmeisterschaft 2005 in Shanghai war Boll gegen den Chinesen Liu Guozheng im Achtelfinale auf dem Weg zu seiner ersten WM-Einzelmedaille. Das Spiel schien schon so gut wie gewonnen, weil der Ball des Chinesen die Platte verfehlt zu haben schien. Hatte er aber nicht, sondern hauchdünn gestreift. Boll wies den Schiedsrichter sofort darauf hin – und verlor das Spiel.

Timo Boll und Liu Guozheng

© Imago Images

Was an dieser Szene auffiel, war „die Selbstverständlichkeit, mit der er das getan hat“, wie der heutige Sportdirektor des Deutschen Tischtennis-Bundes Richard Prause sagt. Prause betreute Boll während des Spiels und war nach diesem Ballwechsel schon siegesgewiss aufgesprungen. Boll zögerte eben nicht, seine Hand schnellte nach vorne, um den Punktgewinn seines Gegners anzuzeigen.

Für seine Geste erhielt Boll eine Fair-Play-Medaille, einer von vielen Preisen für seine Haltung. Boll selbst hat sie einmal in den schönen Satz gekleidet: „Tischtennis ist wie eine große Liebe und die betrügt man nicht.“

Wir sind sogar eher Außenseiter. Aber dass es noch mal so kribbelt, auch sportlich gesehen, dafür bin ich super dankbar

Timo Boll, über das letzte Spiel seiner Tischtenniskarriere

Es gibt natürlich noch jede Menge Statistik, die ebenfalls erzählt, was Bolls Tischtenniswerk so außergewöhnlich macht. Rekordeuropameister mit acht Titeln im Einzel, erster Deutscher auf Platz eins der Weltrangliste, später ältester Spieler auf Platz eins der Weltrangliste, vier Olympiamedaillen mit der Mannschaft, sieben Champions League-Titel, und ein Sieg am Sonntag würde den 15. Deutschen Mannschaftsmeistertitel bedeuten.

Wobei es auf einen Titel mehr oder weniger wirklich nicht ankommt. „Wir sind sogar eher Außenseiter. Aber dass es noch mal so kribbelt, auch sportlich gesehen, dafür bin ich super dankbar“, sagt Boll, „selbst wenn es am Ende nicht reicht, bin ich einfach nur froh, dass es noch mal zu diesem Showdown gekommen ist.“

Boll wird nun Botschafter seiner Sportart

Bevor andere auf eine ähnliche Idee kommen, hat der Deutsche Tischtennis-Bund vor wenigen Tagen Boll schnell offiziell in seinen diplomatischen Dienst genommen. Der Verband hat Boll zum „Botschafter des Deutschen Tischtennis“ ernannt – als ersten Spieler überhaupt. „Als Botschafter und Ratgeber sehe ich mich sehr gerne“, sagt Boll. Weil er schließlich sowohl wichtige Botschaften als auch kluge Ratschläge zu bieten hat aus einer bis oben hin gefüllten Erfahrungsschatzkiste.

Timo Boll ist jetzt  „Botschafter des Deutschen Tischtennis“.

© imago/Eibner/IMAGO/Eibner-Pressefoto/Alexander Neis

Wenn er auch nicht Trainer werden will, der jeden Tag in der Halle steht, Pläne entwirft, Mannschaften zusammenstellt und was sonst noch alles dazugehört, dann wird er sicher genau als Botschafter und Ratgeber im Tischtennis weitermachen. Zum Beispiel bei Turnieren einzelne Spieler betreuen und ihnen etwas vermitteln, eine taktische Finte, die ihm mit seinem Blick des Hochbegabten eingefallen ist.

Langjährige Freundschaft zu China

Wie nun sein nächster Lebensabschnitt aussehen kann, das hat Boll zum Beispiel vor ein paar Wochen gezeigt. An einem Stand der „All in Caravaning“-Messe in Peking. Da verband er eine langjährige Freundschaft mit einer neuen Leidenschaft. Sein Wohnmobil ist zuletzt sein rollendes, vertrautes Zuhause geworden.

Die Freundschaft zu China reicht schon länger zurück und ist auch so eine Besonderheit in Bolls Tischtennis-Leben. Er hat sich mit Generationen von chinesischen Spielern gemessen, und sie immer wieder auch besiegt, was schon ungewöhnlich genug ist, weil Tischtennis in China Nationalsport ist und im Trainingszentrum in Peking die allerbesten Bedingungen herrschen. In China haben sie Boll zwischenzeitlich sogar so gefürchtet, dass sie Spieler abgestellt haben, die seinen Stil im Training imitiert haben.

Es passt zu Timo Boll, dass aus dieser Konkurrenz keine Konfrontation geworden ist – im Gegenteil. Der bodenständige Boll aus dem hessischen Odenwald hat sich auf die Andersartigkeit Chinas eingelassen, sich von ihr sogar inspirieren lassen, und gerne viel Zeit in China verbracht, ob als Spieler in der chinesischen Liga oder im Urlaub.

Zu seiner Beziehung zu China gehört auch Kurioses. Dass sie ihn zum „Sexiest Man Alive“ gewählt haben, dass an seine Hotelzimmertür regelmäßig Frauen geklopft haben, das sind bunte Konfettischnipsel auf dem großen Bild. Das Wesentliche ist, dass er in China großen Respekt genießt, nicht für sein in den Augen der Chinesinnen attraktives Äußeres, sondern für sein freundliches und faires Auftreten.

Am Sonntag wird ihm nun wieder größter Respekt entgegengebracht, auch von Freunden, die zu seinem Abschied in die Halle kommen, wie Dirk Nowitzki. Beide verbindet die besondere Ehre, die Fahne der deutschen Olympiamannschaft bei der Eröffnungsfeier der Spiele ins Stadion getragen zu haben, Nowitzki 2008 in Peking, Boll 2016 in Rio.

Dass man nach seiner Karriere Vertreter nicht nur seiner Sportart, sondern des Sportsgeists bleiben kann, das hat Nowitzki vorgemacht. Um weiter zu wirken, braucht Timo Boll auch keinen Tischtennisschläger, sondern einfach nur sich selbst.

Der Autor ist Direktor des Landessportbunds Berlin, war 15 Jahre lang Tagesspiegel-Redakteur, und hat gemeinsam mit Timo Boll das Buch „Timo Boll: Mein China. Eine Reise ins Wunderland des Tischtennis“ geschrieben

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