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Wellenreiterin. Vor rund einem Jahr kam Mardini als Flüchtling nach Berlin, das IOC ermöglichte ihr einen Start bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro.

© dpa

Schwimmerin aus Syrien: Yusra Mardini zwischen Spandau, Rio, New York

Yusra Mardini ist 2016 berühmt geworden, die 18-Jährige hat Obama und den Papst getroffen – und kann ihr Jahr selbst kaum glauben.

Als Yusra Mardini die Autogrammkarten aus der Jackentasche zieht und an die Grundschüler verteilt, kann sich ein kleiner Junge die Frage nicht verkneifen. „Sind Sie das?“, fragt er und blickt ungläubig auf das Bild, das Mardini mit ausgebreiteten Armen beim Schmetterlingschwimmen zeigt. „Na, wer denn sonst?“, zischt ein Mädchen neben ihm. Der Junge guckt weiter skeptisch – wieso sollte jemand, der Autogramme verteilt und offensichtlich irgendwie berühmt ist, hier im Sportunterricht der Grundschule am Amalienhof in Spandau auftauchen?

Yusra Mardini bewegt sich nun einmal zwischen den Welten. Vor etwas mehr als einem Jahr ist die junge Syrerin als Flüchtling in Berlin angekommen. Die Geschichte ihrer Reise über das Mittelmeer, bei dem sie und ihre Schwester ein Flüchtlingsboot schwimmend hinter sich herzogen, hat sie berühmt gemacht. Als Mitglied des erstmalig startenden Flüchtlingsteams (ROT) durfte sie bei Olympia in Rio schwimmen, in aller Welt wurde über sie berichtet. Sie hat US-Präsident Barack Obama, den Papst und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon getroffen.

Und an diesem Mittwoch im Dezember läuft sie lachend durch eine Spandauer Schulturnhalle und tobt mit den Kindern.

Der Landessportbund wirbt an diesem Tag mit Mardini für sein Programm „Berlin hat Talent“, so wie auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) oder das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) mit ihr werben. Die 18-Jährige – offene Haare, weißes T-Shirt, schwarze Leggins, weiße Turnschuhe, strahlendes Lächeln – hat in diesem Jahr viel erlebt und viel gelernt. Nach der Sportstunde beantwortet sie noch Fragen der Kinder und gibt ihnen Ratschläge. „Alle von euch sollten Sport treiben, fit bleiben“, sagt sie auf Englisch, ihr Trainer Sven Spannekrebs übersetzt für sie. „Vielleicht liebt ihr Schwimmen oder Fußball oder Ballett. Ich hoffe, dass ihr alle Sportler werdet.“

Mardini traf nach ihrem Olympiastart Barack Obama...
Mardini traf nach ihrem Olympiastart Barack Obama...

© Instagram/Mardini

Es sei ein „verrücktes Jahr“ gewesen, sagt Mardini wenige Tage nach dem Schulbesuch im Vereinsheim der Wasserfreunde Spandau 04. Der Klub hat zu einer kleinen Pressekonferenz geladen. „Das ganze Jahr war ein Highlight“, sagt Mardini. „Sportlich war natürlich Rio das Größte.“ Als Mitglied des zehnköpfigen Flüchtlingsteams musste sie sich nicht formell qualifizieren, dafür wären ihre Bestzeiten auch zu schwach gewesen. Über 100 Meter Schmetterling wird Mardini 40. von 44 Startern, über 100 Meter Freistil belegt sie Platz 45, nur eine Schwimmerin von den Malediven ist langsamer.

Nach ihren Rennen steht Yusra Mardini vor den internationalen Reportern, ihr Blick hetzt von einem Fragesteller zum nächsten. Mit tropfnassem Haar wiederholt sie immer wieder mechanisch, es sei „wirklich großartig“ und „total unglaublich“, bei Olympia am Start zu sein.

In solchen Momenten scheint das Interesse der Öffentlichkeit Yusra Mardini zu überfordern. Es gab auch Tage, an denen ihr alles zu viel wurde. Die schrecklichen Nachrichten aus Aleppo und anderen Orten in ihrer Heimat setzen ihr zu. „Wenn ich mich jeden Tag über die Lage in Syrien informieren würde, säße ich jeden Tag weinend in meinem Zimmer“, sagt sie. Psychologische Hilfe hat sie aber stets abgelehnt. Welche Termine und Anfragen sie wahrnimmt, entscheidet sie selbst. Wenigstens mit ihrer Familie ist sie wieder vereint, das Stipendium des IOC reicht für eine gemeinsame Wohnung mit ihren beiden Schwestern und ihrer Mutter, die Möbel hat natürlich Sven Spannekrebs zusammengeschraubt und aufgebaut. Auch Mardinis Vater lebt in Berlin, allerdings wie schon in Syrien getrennt vom Rest der Familie. Ihre ältere Schwester Sahra hilft gerade ehrenamtlich bei der griechischen Organisation ERCI, die in der Ägäis in Seenot geratene Flüchtlinge rettet.

Papst Franziskus...
Papst Franziskus...

© dpa

Welche Wucht Yusra Mardinis Geschichte besitzt, zeigt sich nach den Olympischen Spielen. Auf Einladung von Obama hält sie im September in New York beim UN-Gipfel zur Flüchtlingsthematik eine Rede, dabei trifft sie neben dem US-Präsidenten auch Ban Ki Moon, Unicef verleiht ihr einen Preis. Aus aller Welt erhält Spannekrebs, der immer noch als Mardinis Pressesprecher und Manager fungiert, Anfragen für Vorträge und Einladungen für Preisverleihungen. Das meiste lehnt Spannekrebs ab. „Es ist nicht unser erklärtes Ziel, noch mehr rote Teppiche zu sehen“, sagt er. Zur Bambi-Verleihung in Berlin gehen die beiden aber doch, Yusra Mardini wird in der Kategorie „Stille Helden“ ausgezeichnet.

Kurz zuvor ist sie für die Veranstalter nach Rom geflogen, um Papst Franziskus ihrerseits einen Bambi zu überreichen. Der Papst sei sehr freundlich gewesen und habe „grazie“ gesagt, berichtet Mardini. Ein wirkliches Gespräch habe sie aber nicht mit ihm geführt. Die Begegnungen mit den Mächtigen dieser Welt haben für den Teenager, der noch im vergangenen Winter vor dem Lageso Schlange stand, auch einen surrealen Charakter. „Ich habe das gar nicht verstanden“, sagt sie über die Treffen mit Franziskus und Obama. „Noch zwei Tage später habe ich mir gesagt: Habe ich die wirklich getroffen?“

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon...
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon...

© dpa

In Berlin lebt Yusra Mardini ein ganz anderes Leben. Sie besucht die neunte Klasse der Poelchau-Oberschule, der Eliteschule des Sports im Olympiapark. Sie lernt Deutsch und trainiert weiter intensiv, zehn Mal pro Woche im Schwimmbecken und vier Mal pro Woche im Kraftraum. Ihr Ziel bleiben die Olympischen Spiele 2020 in Rio – für welche Mannschaft sie dort starten könnte, ist aber völlig offen. Das IOC hat sich noch nicht entschieden, ob das Flüchtlingsteam eine einmalige Ausnahme bleiben oder eine feste olympische Institution werden soll. Mardini kann sich durchaus vorstellen, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen – die deutschen Olympianormen dürften für sie aber unerreichbar bleiben. Und wie es in Syrien weitergeht, weiß zurzeit wohl niemand auf der Welt. Die Möglichkeit eines Umzugs in die USA hat Yusra Mardini sowieso wieder für sich ausgeschlossen – nach der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten.

Für die nächsten fünf Jahre plant Yusra Mardini also, in Berlin zu bleiben, zu schwimmen und zur Schule zu gehen. Bei den Wasserfreunden wechselt sie in eine andere Trainingsgruppe, Sven Spannekrebs wird ihr nur noch als Berater zur Seite stehen, ein professioneller Manager übernimmt viele seiner Aufgaben. Eine Münchner Agentur soll die unzähligen Medienanfragen und Angebote aus aller Welt sondieren und sortieren. Unter anderem steht das Angebot eines Hollywood-Kinofilms im Raum.

...und besuchte den Sportunterricht der Spandauer Grundschule am Amalienhof.
...und besuchte den Sportunterricht der Spandauer Grundschule am Amalienhof.

© LSB/Engler

Für den UNHCR wird Mardini künftig als „High Profile Ambassador“ tätig sein, in dieser Kategorie bewegt sich zum Beispiel auch US-Comedystar Ben Stiller. Sie würde gerne eine Stiftung ins Leben rufen oder Flüchtlingen kostenlos Schwimmen beibringen. Und natürlich ihr Idol Lionel Messi treffen. Die Einladung vom FC Barcelona zu einem Champions-League- Spiel steht bereits, ein Termin muss aber noch gefunden werden.

Auch im neuen Jahr wird Mardini also viel Kraft brauchen. „Ich bin sooo müde“, sagt sie. „Ich bin müde – aber auch aufgeregt, was 2017 passieren wird.“

In der Grundschule am Amalienhof ist nichts von ihrer Erschöpfung zu sehen. Die Schüler kraxeln über einen Kletterparcours aus Barren, Bank, Matten und Kästen. Mardini und Spannekrebs geben Hilfestellung, zwischendurch hat die Schwimmerin immer wieder Zeit für ein Lächeln für die Fotografen oder ein Selfie mit dem Smartphone. Auf Instagram hat Mardini 35 200 Follower, bei Facebook sind es 96 000 Fans, Bilder an der Seite von Staatsoberhäuptern wechseln sich mit typischen Teenagerposen ab.

Dann klettert Mardini selbst über den Barren, Spannekrebs reicht ihr zum Scherz die Hand. „Nee“, sagt sie. Und noch einmal mit mehr Nachdruck: „Nee!“ Ganz ohne Hilfe kommt Yusra Mardini noch nicht aus, aber sie ist auf dem besten Weg dorthin.

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