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Der Schriftsteller Louis Ferron ist Teil der Forschung am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie.

© Hans van Dijk – Anefo – Nationaal Archief – CC0

75 Jahre Kriegsende: Blick über die Grenze

Der Literaturwissenschaftler Jan Konst beschäftigt sich mit der literarischen Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges in den Niederlanden.

Es war die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: Als unehelicher Sohn eines deutschen Wehrmachtssoldaten und einer niederländischen Mutter hatte es Louis Ferron in den Niederlanden schwer. Andere Kinder durften nicht mit ihm spielen, in der Schule wurde er beschimpft und ausgeschlossen. 

Wo er wirklich zu Hause war, wusste er nicht. Gehörte er in das Land seiner Mutter oder nach Deutschland, wo er noch während des Zweiten Weltkrieges in seinen ersten Lebensjahren aufgewachsen war? 

Louis Ferron wurde Schriftsteller, schrieb Bücher auf Niederländisch, beschäftigte sich in seinen Romanen, die mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet wurden, mit der Frage, die auch sein Leben entscheidend geprägt hatte: Wie hatte es zum sogenannten Dritten Reich kommen können?

„Leider wurden seine Romane nicht ins Deutsche übersetzt“, sagt Professor Jan Konst, der am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität seit vielen Jahren zur niederländischen Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg arbeitet und viele Fachartikel sowie ein Buch („Alles Waan. Louis Ferron en het Derde Rijk“; dt.: „Alles Wahn. Louis Ferron und das Dritte Reich“) über den Schriftsteller geschrieben hat.

Niederländische Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg

So hatte Louis Ferron in den siebziger Jahren auf eigene Faust versucht, einen deutschen Verlag zu finden, jedoch nur Absagen erhalten. Womöglich, meint Jan Konst, habe der provokante Ton der Bücher abgeschreckt. 

In seinen Texten bearbeitet Louis Ferron Themen wie Täterschaft und Opferrolle sowie die Verantwortung der Einzelnen. 

Der Roman „De keisnijder von Fichtenwald“ (dt.: „Der Schädelbohrer von Fichtenwald“) von 1976 spielt in einem fiktiven Konzentrationslager und wird aus der Täterperspektive eines SS-Mannes erzählt.

Ferrons Werk ist Konst zufolge ein Beispiel dafür, wie vielfältig der Zweite Weltkrieg in unserem Nachbarland literarisch aufgearbeitet wurde. 

„Wie in Deutschland war auch in der niederländischen Literatur der Zweite Weltkrieg nach 1945 für einige Jahrzehnte das wichtigste Thema“, sagt Jan Konst. Dabei habe zunächst lange ein antideutscher Ton vorgeherrscht. 

Themen wie Täterschaft und Opferrolle

Erst seit den neunziger Jahren werde Deutschland in den Niederlanden positiver wahrgenommen und auch nicht mehr ausschließlich mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht. Man habe gesehen, dass sich Deutschland zu einer stabilen Demokratie entwickelt habe.

Derzeit bringen junge niederländische Autoren noch einmal einen ganz anderen Blick auf den Zweiten Weltkrieg mit. 

So zum Beispiel der marokkanischstämmige Schriftsteller Mano Bouzamour, der in seinem Bestseller von 2016 „Samir, genannt Sam“ („De belofte van Pisa“) die in Bergen-Belsen ermordete Anne Frank den Holocaust überleben und ihre Peiniger aufspüren lässt. „Das ist für ältere Generationen natürlich eine Art Tabubruch“, sagt Jan Konst.

Nicht nur als Literaturwissenschaftler, auch privat hat die deutsche Geschichte für Jan Konst in den vergangenen Jahren eine große Rolle gespielt. In dem erzählenden Sachbuch „Der Wintergarten. Eine deutsche Familie im langen 20. Jahrhundert“ („De Wintertuin. Een Duitse familie in de lange twintigste eeuw“), hat er die Geschichte der sächsischen Familie seiner Ehefrau über 150 Jahre erzählt. 

Inspiriert von der privaten Familiengeschichte

Dazu inspirierte ihn seine Schwiegermutter, die ihm immer wieder das umfangreiche Familienarchiv zeigte: Fotoalben, Urkunden, Rechnungen, Geschäftsbücher, Postkarten. Hilde, geboren 1902, eine der Hauptfiguren des Buches, erlebte Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, DDR und Wiedervereinigung; sie starb 2001. 

„Ich hätte meinen Kindern auch sagen können: Ich bin Niederländer, ich halte mich aus eurer deutschen Geschichte heraus“, sagt Jan Konst. „Aber ich fühle mich auch als Europäer und interessiere mich für unsere gemeinsame Vergangenheit.“

Auch wenn es sich bei der Familie um eine eher unpolitische „Durchschnittsfamilie“ handelte, habe er sich beim Auswerten der Quellen eingehend mit moralischen Fragen auseinandergesetzt, die ihn auch als Niederländer betreffen. 

Tagebuch eines Wehrmachtssoldaten

So las er etwa das Tagebuch des Großvaters seiner Frau, der in den Niederlanden als Wehrmachtssoldat war. „Mir ist noch einmal klar geworden, dass es zwischen Gut und Böse eine große Grauzone gibt“, sagt Jan Konst. 

„Ich kann jetzt vieles besser verstehen, was nicht heißt, dass ich für alles Verständnis haben muss.“ Beim Auswerten der Quellen habe ihm seine Erfahrung als Literaturwissenschaftler sehr geholfen. 

„Mir ist es immer wichtig, mein Wissen auch nach außen zu tragen“, sagt Jan Konst. „Ich möchte für ein breiteres Publikum aktiv sein, eine Art angewandte Geisteswissenschaft betreiben.“

Auch mit seinen Studierenden wird der Literturwissenschaftler in diesem Semester wieder über den Zweiten Weltkrieg sprechen: Er bietet ein Seminar zur literarischen Verarbeitung der Bombardierung deutscher Städte an – der niederländische Autor Harry Mulisch wird im Mittelpunkt stehen. 

In dessen Werk „Das steinerne Brautbett“ von 1960 geht es um einen ehemaligen amerikanischen Bomberpiloten, der an der Zerstörung Dresdens beteiligt war und Jahre später an diesen Ort zurückkehrt. Das Seminar wird wegen der Coronavirus-Pandemie in digitaler Form stattfinden.

Amely Schneider

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