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Brasilianerinnen aus Gewerkschaften und von feministischen Organisationen demonstrieren gemeinsam beim Marcha das Margaridas.

© Renata Campos Motta

Kein Hungern mehr ab 2030: Die Menschheit fairsorgen

Eine Forschungsgruppe untersucht, wie Ungleichheiten im globalen Ernährungssystem entstehen und wie sie behoben werden können. Frauen und Migranten trifft es oft hart.

Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen litten 2019 weltweit 690 Million Menschen an Unterernährung. Das sind 60 Millionen mehr als fünf Jahre zuvor. Im Jahr 2015 haben die Vereinten Nationen in die 17 Nachhaltigkeitsziele das Ziel aufgenommen, bis 2030 den Hunger weltweit zu beenden. „Es fehlt nicht an Nahrung“, sagt Renata Campos Motta, „verantwortlich für Hunger und Mangelernährung sind ungleiche Machtverhältnisse.“

Die Wissenschaftler untersuchen strukturelle Ungleichheit

Die Juniorprofessorin für Soziologie am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin ist Leiterin der Nachwuchsforschungsgruppe Food for Justice: Power, Politics and Food. Inequalities in a Bioeconomy. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen strukturelle Ungleichheiten im globalen Ernährungssystem und soziale Bewegungen, die in diesem Kontext entstanden sind. Food for Justice wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Wie können Menschen ein soziales, ökologisches und gerechtes Nahrungsmittelsystem gestalten? Das ist die zentrale Frage, die bei Food for Justice im Fokus steht. Um Antworten zu finden, kombinieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Theorien über globale Ungleichheiten mit der Forschung zu sozialen Bewegungen in Bezug auf Nahrungsmittelgerechtigkeit. „Drei Viertel der Menschen, die an Hunger leiden, leben in ländlichen Regionen“, sagt Renata Campos Motta. Das wirke zunächst paradox, denn gerade in diesen Gegenden gebe es ja Anbauflächen. Diese sind aber häufig nicht für die Produktion von Lebensmitteln gedacht. In Brasilien beispielsweise wird stattdessen großflächig Soja für Nutztiere in Europa und China angebaut.

Gewerkschaften und Feministinnen demonstrieren zusammen

Ein Schwerpunkt der Forschungsgruppe ist eine intersektionale Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeit zwischen Geschlechtern und mit sozialer Klassenzugehörigkeit. Oder eher: mit der Ungerechtigkeit. „Es gibt große geschlechterspezifische Unterschiede beim Zugang zu Ressourcen im Ernährungssystem“, erklärt Renata Campos Motta. Dagegen protestiert eine soziale Bewegung in Brasilien: Marcha das Margaridas (dt.: Marsch der Margaridas; der Name bezieht sich auf die 1983 ermordete Gewerkschaftlerin und Aktivistin Margarida Maria Alves). Bei den Demonstrationen, an denen in der Regel zwischen 20.000 und 100.000 Brasilianerinnen teilnehmen, schließen sich ländliche Gewerkschaften und feministische Organisationen zusammen. Gemeinsam kämpfen sie unter anderem für die Anerkennung von Frauen als Landarbeiterinnen, für staatliche Förderungen von Agrarökologie und den Anbau von gesunden und ökologischen Lebensmitteln sowie für ein Ende sexualisierter Gewalt.

Frauen werden als Helferin statt als Arbeiterin gesehen

„Vor allem in ländlichen Regionen leiden Frauen unter vielfältigen Formen der Unterdrückung. Sie prägen aber ganz besonders das Ernährungssystem“, sagt Renata Campos Motta. Viele Frauen werden als Helferin anstatt als Arbeiterin in Familienbetrieben wahrgenommen und erhalten bei gleicher Arbeit weniger Lohn als Männer. Sie werden bei der Vergabe von Landeigentumstiteln und Krediten benachteiligt. Dabei sind Frauen stärker in den Anbau von Lebensmitteln für Selbstversorgung sowie in die Vor- und Zubereitung von Essen eingebunden als Männer, erklärt die Soziologin. Traditionell werde ihnen aber die Rolle als Mutter und Hausfrau zugeschrieben.

Eine weitere soziale Bewegung, mit der sich die Forschungsgruppe befasst, ist das deutsche Bündnis „Wir haben es satt“. Seit 2011 gehen jährlich Vertreterinnen und Vertreter aus der Agrarwirtschaft sowie aus Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbänden gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern zum Auftakt der landwirtschaftlichen Messe „Internationale Grüne Woche“, die üblicherweise zu Jahresbeginn in Berlin stattfindet, auf die Straße. Sie fordern das Ende der industriellen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion. „Wir wissen, dass das dominante Agrarmodel, das auf eine ölbasierte Wirtschaft setzt, eine schlechte Ökobilanz hat. Es reproduziert außerdem schlechte Arbeitsbeziehungen, prekäre Tierhaltung und Ungerechtigkeiten im globalen Süden – und trotzdem wird dieses Model stark subventioniert“, erläutert Renata Campos Motta.

Einer Befragung von Food for Justice gemeinsam mit dem Institut für Protest und Bewegungsforschung zufolge sind viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der „Wir haben es satt“-Demonstration der Meinung, dass ein bewusstes Ernährungs- und Konsumverhalten zum Umwelt- und Klimaschutz beiträgt. „Sie sehen aber auch Veränderungen politischer Rahmenbedingungen als ein Mittel, um die Agrar- und Ernährungswende voranzutreiben“, konstatiert Renata Campus Motta.

Migranten bleibt oft der Mindestlohn verwehrt

Wie in vielen Lebensbereichen wurden in Deutschland durch die Covid19- Pandemie auch im Ernährungssystem bestehende soziale Ungleichheiten stärker sichtbar. „Insbesondere migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern, die in der Lebensmittelindustrie tätig sind, bleibt oftmals der Anspruch auf den Mindestlohn oder eine adäquate Gesundheitsversorgung verwehrt“, sagt Renata Campos Motta. Neu sind diese Probleme nicht. Aber erst durch die Diskussionen um massenhafte Infektionen in Lebensmittelbetrieben sind die Missstände ins öffentliche Bewusstsein gerückt

Die Forschungsgruppe hat mögliche Folgen der Pandemie für Nahrungsungleichheiten als eine weitere Fallstudie aufgenommen. Deutschland und Brasilien vergleichend, befassen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun auch mit den Fragen, welche sozialen Gruppen am meisten von Ernährungsunsicherheit während der Pandemie betroffen sind und welche Auswirkungen die schwierigen Bedingungen auf die Landwirtschaft sowie die Lebensmittelindustrie bezüglich der Arbeitsrechte haben.

Die Pandemie zeige auch, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in gesellschaftlichen Debatten einen höheren Stellenwert bekommen sollten. Dafür wolle sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen durch die gemeinsame Arbeit einsetzen, betont Renata Campos Motta. „Unser Ziel ist es, wissenschaftliche Daten zu liefern, die Politikerinnen und Politiker für Strategien zugunsten eines fairen, agrarökologischen, nachhaltigen, und global gerechten Landwirtschafts- und Nahrungssystem nutzen können.“

Das – übergeordnete – Ziel der Vereinten Nationen, dass bis zum Jahr 2030 kein Mensch mehr Hunger leiden soll, es gilt weiterhin. 

Anne Stiller

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