zum Hauptinhalt
Der Zeigefinger einer männlichen Hand zeigt auf eine Ein-Euro-Münze.

© Getty Images/Juan Moyano

Soziologe zum Thema Trinkgeld: „Die Leute schauen genau hin, wer wie viel gibt“

Soziologie-Professor Christian Stegbauer im Gespräch über kulturelle Unterschiede beim Geben, Verteilungsfragen in der Belegschaft und wie sich das vermehrte Kartenzahlen auswirkt.

Stand:

Herr Stegbauer, Sie beschäftigen sich als Soziologe mit dem Phänomen Trinkgeld. Warum ist dieser scheinbar beiläufige Akt beim Bezahlen für Sie so spannend?
Trinkgeld ist ein alltäglicher, aber zugleich erstaunlich großer Wirtschaftsfaktor. Es geht um Milliardenbeträge, die freiwillig fließen. Aus ökonomischer Sicht ist das Phänomen schwer zu erklären: Trinkgeld ergibt eigentlich nur dann Sinn, wenn man wiederkommt und sich bessere Behandlung erkauft. Doch viele Zahlungen erfolgen einmalig, etwa an Raststätten. Als Soziologe interessiert mich, welche sozialen, kulturellen und normativen Mechanismen hier wirken. Daher habe ich mit einer Studierendengruppe vor einigen Jahren qualitative Interviews mit Servicekräften und Restaurantgästen geführt.

Ist Trinkgeld also vor allem ein Akt der Großzügigkeit?
Großzügigkeit spielt eine Rolle, aber Trinkgeld ist tief in Normen, Traditionen und der Kultur verankert. Es gibt Konventionen darüber, ob man gibt und wie viel. Diese Regeln variieren stark zwischen Ländern.

In den USA gilt Trinkgeld als Pflicht, in Japan als Beleidigung – was sagen diese Unterschiede über Gesellschaften aus?
Das spiegelt unterschiedliche Dienstleistungsverständnisse und kulturelle Muster. In Japan ist Service Teil der Dienstleistung, Zufriedenheit wird als selbstverständlich betrachtet. In den USA ist der Service stärker personalisiert und mit Erwartungen an Belohnung verbunden.

Trinkgeld wird in jedem Fall sozial beobachtet.

Christian Stegbauer, Soziologe

Spätestens seit der Corona-Pandemie zahlen auch in Deutschland viele nur noch mit Karte. Verändert das auch unser Trinkgeldverhalten – und vielleicht sogar unser Verhältnis zum Geben?
Heute erscheinen auf Bezahlterminals oft voreingestellte Vorschläge, auch in Selbstbedienungscafés, und das irritiert viele. Es gibt eine Art Inflation der Vorschläge: 10, 15, 20 Prozent. Das kann Druck erzeugen und das Gefühl, man müsse mehr geben, obwohl die Leistung vielleicht gar nicht dem entspricht.

Eine andere Auswirkung des Kartenzahlens ist, dass man bei großen Gruppen nicht mehr so direkt mitbekommt, wie viel Trinkgeld die Person vor einem gegeben hat. Normalerweise orientieren sich Menschen aber an anderen. Wenn man zum Beispiel mitbekommt, dass die Person vorher ganz wenig Trinkgeld gegeben hat, geben manche ein bisschen mehr, um das Ansehen der Gruppe zu retten.

Spiegelt die Höhe des Trinkgelds auch unseren sozialen Status oder unser Bedürfnis, besonders großzügig zu wirken?
Trinkgeld wird in jedem Fall sozial beobachtet. Bei Firmen-Essen etwa registriert die Belegschaft, wenn der Chef knauserig ist. Es wird darüber geredet. Und es bleibt im Gedächtnis. Grundsätzlich wird von wohlhabenderen Gästen erwartet, mehr Trinkgeld zu geben. Bei Paaren gibt es auch Situationen, in denen Partnerinnen oder Partner subtil Einfluss nehmen. In den Interviews hatten wir Fälle, wo die Frau ihren Mann unter dem Tisch getreten hat, wenn er ein bisschen mehr Trinkgeld geben sollte.

Diskreter lässt sich Trinkgeld geben, wenn die Rechnung in einem Kästchen überreicht wird.
Ja, auf diese Weise kann man in Ruhe über die Höhe entscheiden und steht weniger unter sozialem Druck, als wenn man der Servicekraft den Betrag offen mitteilen muss. Und die Bedienung dann vielleicht sogar nochmal nachfragt, sodass es auch wirklich alle anderen mitbekommen. Da gibt einem ein Kästchen deutlich mehr Freiheit.

Wie wird das Trinkgeld in Betrieben eigentlich verteilt?
Da gibt es sehr unterschiedliche Systeme. Dass das Trinkgeld vollständig an die Bedienung geht, ist weniger häufig als man denkt. Meist wird es gesammelt und zwischen dem Personal aufgeteilt, sodass zum Beispiel auch die Küchenkräfte etwas erhalten. Es gibt aber auch Fälle, bei denen das gesamte Trinkgeld einkassiert wird und dann einmal im Jahr etwas zusammen unternommen wird. Das ist eigentlich gar nicht zulässig. In jedem Fall ist die Verteilung des Trinkgelds immer eine Aushandlungssache. Und damit auch immer ein potenzieller Grund für Ärger und Diskussionen. In unseren Interviews haben wir festgestellt, dass es eigentlich nie eine optimale Aufteilung gab.

Welche Tipps erhalten Bedienungen, wie sie mehr Trinkgeld erhalten?
Die meisten haben uns berichtet, dass ihnen am Anfang vor allem gesagt wurde, dass sie immer schön freundlich sein sollen. Und dass sie, wenn wirklich mal was schiefgeht, den Gästen einen Kaffee oder einen Schnaps ausgeben sollen. Wichtig ist es für Bedienungen, zu den Gästen eine persönliche Ebene aufzubauen. In der Spitzengastronomie haben uns manche Servicekräfte berichtet, dass sie die Gäste erst beobachten, um angemessen auf sie eingehen zu können. Wenn zum Beispiel ein jüngeres Paar kommt, hat sich das meist genug zu erzählen, da hält man sich vielleicht eher abseits. Bei älteren Paaren, die sich häufiger anschweigen, gehen die Servicekräfte dagegen eher hin und machen Smalltalk.

Was würden Sie sagen, sind die Deutschen eher knauserig oder großzügig?
Eher großzügig. Zumindest im Vergleich zu Ländern, in denen Trinkgeld unüblich ist wie Japan oder China. Oder im Vergleich zu Südeuropa, wo man generell nicht so viel Trinkgeld gibt. Amerikaner sind gewohnheitsmäßig vielleicht noch großzügiger. Dafür geben Deutsche nach meiner Beobachtung im Ausland oft mehr Trinkgeld, weil es ihnen einfach zur Gewohnheit geworden ist.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })