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Eine geballte Ladung Slowenisches. Blick auf aktuelle Neuerscheinungen des Buchmesse-Gastlandes, darunter auch einige der hier besprochenen

© dpa/Sandra Trauner

Unentfaltete Hoffnung: Streifzug durch den slowenischen Gegenwartsroman

Von Ana Mawan bis zu Roman Rozina: In der erzählenden Prosa des diesjährigen Gastlandes der Frankfurter Buchmesse spiegelt sie Auseinandersetzung mit seiner jüngsten Geschichte.

Von Ralf Schnell

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Slowenien, Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, ist ein einzigartiges Literatur- und Leseland. Es verfügt bei gerade einmal zwei Millionen Einwohnern über 1400 Verlage mit mindestens einem veröffentlichten Buch pro Jahr. 3500 Bücher, davon allein 300 Gedichtbände, erscheinen alljährlich. Im Hinblick auf die Anzahl der veröffentlichten Bücher liegt Slowenien pro eine Million Einwohner weltweit an zweiter Stelle.

Dabei besteht der Staat Slowenien in seiner heutigen Gestalt erst seit 1991, jenem Jahr, in dem sich das Land während eines Zehn-Tage-Krieges aus der Umklammerung durch das ehemalige Jugoslawien befreien konnte. Slowenien ist heute ein demokratisch verfasster, parlamentarischer Staat, der im Jahr 2004 der EU und im Jahr 2007 der NATO beigetreten ist. Die Bereitschaft, mit dieser jüngsten Geschichte sich auseinanderzusetzen, bezeugt vor allen anderen literarischen Genres der slowenische Gegenwartsroman.

Mit Ana Marwan, geboren 1980 in der slowenischen Stadt Murska Sobota, kann man die Quelle, aus der die Poesie dieses Landes ihre Energie bezieht, als „eine unentfaltete Hoffnung“ bezeichnen. In der ARD-Literatursendung „Druckfrisch“ antwortete sie auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: „Ich finde eigentlich nichts Falsches daran, dass man das Ziel aufschiebt, das ist ja der Sinn des Lebens, oder dass man so lange wie möglich, nicht ans Ziel kommt. Und ich finde eine unentfaltete Hoffnung viel wertvoller als jede Art Ziel.“

Literatur des Aufbegehrens

Eine auf den ersten Blick merkwürdige Wendung. Doch sie führt ins Zentrum dessen, was die slowenische Gegenwartsliteratur auszeichnet: das Nicht-Vollendete, Nicht-Klassische, Nicht-Fertige. Es ist eine Literatur der Offenheit und des Aufbegehrens, der Aufarbeitung der Vergangenheit und zugleich des Entwurfscharakters, was die Gegenwart betrifft.

Für ebendiese Qualität steht auch das noch schmale Werk der Autorin Ana Marwan selbst, Trägerin des Ingeborg Bachmann-Preises 2022, Verfasserin des Romans „Der Kreis des Weberknechts“ (2019) und der Erzählung „Wechselkröte“ (2022). Schon der Titel ihres jüngsten Romans ist Programm: „Verpuppt“ (2023) Seine zentrale Figur – ein junges Mädchen, das mit sich und der Welt nicht zufrieden ist – arbeitet in einem Ministerium, Abteilung Raumfahrt, in dem sie nichts zu tun hat.

Sie sieht sich selbst als Figur in einem Spiel, das Leben heißt. Ohne eine Perspektive für ihr Leben erfindet sie Figuren, die sich wie sie – und wie zuvor auch die Autorin selbst – in verschiedenen Lebens-Spielen bewegen. Alles wird in diesem Roman zum Spiel und zum Spiel im Spiel. Eine Wahrheit ersetzt die andere, eine Wahlmöglichkeit die nächste. Das Dasein im Aggregatzustand der „Verpuppung“ ist Ausdruck einer unentfalteten Hoffnung, in der sich jener Selbstbehauptungswille zur Geltung bringt.

Das gilt in vergleichbarer Weise auch für die Prosa von Drago Jančar, geboren 1948 in Maribor, einer der wichtigsten der zeitgenössischen Autoren slowenischer Sprache. Sein Roman „Als die Welt entstand“ spielt in den 1950er Jahren, im Jugoslawien Titos.

Im Mittelpunkt steht ein Jugendlicher mit dem biblischen Namen Danijel. Er sieht sich hin- und hergerissen zwischen einem Vater, der mit seinen einstigen Kameraden vom kommunistischen Kampfbund die alten Triumphe über die Nazis zum Anlass von Trinkgelagen nimmt; einer Mutter, die, ganz im Gegensatz hierzu, ihren Sohn im Geist des Katholizismus erziehen will und ihn den Kapuzinern anvertraut; einem Lehrer, der als Professor humanistische Bildungsideale verkörpert. Eine widerspruchsvolle Vielfalt, die der Autor spannungsreich und mit untergründigem Humor aufeinander bezieht. Ein Roman, in dem die Entwicklungssprünge der slowenischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kunstvoll eingefangen werden.

Familiäre und kriminelle Konfliktzonen

Neben Jančar zählt Goran Vojnović, Jahrgang 1980, zu den anregendsten Autoren der jüngeren Generation. Im Mittelpunkt seines Romans „18 Kilometer bis Ljubljana steht ein junger Mann namens Marko Đorđić aus einer ‚Tschefuren‘-, das heißt: Gastarbeiter-Familie. Er hält sich in allerlei Konfliktzonen auf: familiären, sozialen, kriminellen, politischen. Drogen spielen eine Rolle, unerfüllte Liebesbeziehungen, zerbrechliche Freundschaften.

Was diesen Roman in Slowenien berühmt gemacht hat, ist das prägnant eingesetzte Vokabular einer Jugend, die sich mittels einer rüden Fäkal- und Anal- und Sexualmetaphorik verständigt. Mit ihrer Hilfe charakterisiert Vojnović das Lebensgefühl einer lost generation, die scheinbar nichts zu gewinnen hat: eben weil sie nichts besitzt – außer einer unentfalteten Hoffnung.

Blick in den slowenischen Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse. Installation mit dem Autorennamen Drago Jancar.

© dpa/Hannes P Albert

Vergleichbar hiermit ist der Roman „Splitter eines Lebens“ von Gašper Kralj, Jahrgang 1974. Im Mittelpunkt steht die Zweierbeziehung zwischen einer katalanischen Architektin, die als Reiseführerin arbeitet, und einem slowenischen Übersetzer, der die Lebensgeschichte seiner Großmutter erforscht. Je länger der junge Mann sich auf die Suche macht, in Städten wie Barcelona, Wien und Ljubljana, desto mehr verliert er sein Ziel aus den Augen. Und je mehr er sein Ziel aus den Augen verliert – hier spielen Alkohol und Drogen eine dramaturgisch wichtige Rolle –, desto mehr übernimmt seine in immer weitere Ferne rückende Partnerin die Federführung des Unternehmens.

Die Vorgeschichte Sloweniens bildet den Hintergrund, ebenso der Spanische Bürgerkrieg und Reaktorkatastrophen der jüngeren Geschichte. Doch entscheidend ist, wie hier auf subtile Weise ein Perspektivenwechsel zwischen zwei Figuren nachgezeichnet wird. Romanfiguren ganz unterschiedlichen Temperaments und Zuschnitts, lernen Schritt für Schritt voneinander. Dabei verändern sie sich zur Kenntlichkeit.

Hoffnung: Das Wort bedarf im Zusammenhang der slowenischen Gegenwartsliteratur einer genaueren Bestimmung. Hoffnung ist ein Möglichkeitsbegriff, ein Wunschwort: Etwas wird, etwas kann, etwas soll geschehen. Doch in dieser Perspektivierung teilt sich immer auch Gegenwärtiges mit, in diesem wiederum Schichten der Vergangenheit. Hoffnung gründet in und beruht auf Erfahrungen, die historisch und gesellschaftlich geprägt sind, durch reflektierte Alltagserlebnisse ebenso wie durch lebensgeschichtliche Umbrüche. Etwas ist geschehen, das seiner Aufarbeitung harrt, um daraus für die Zukunft zu lernen.

Solche komplexen Zusammenhänge anschaulich zu machen, ist Sache der Literatur. Es gibt folgerichtig eine Gattung, die für die Aufarbeitung dieser Dimensionen des Daseins zuständig ist. Man nennt sie „Familiensaga“. Zwei Beispiele mögen dies zeigen. Das Grundmuster hat Florjan Lipuš entworfen, ein österreichischer Autor, Jahrgang 1937, der auf Slowenisch publiziert.

In seinem Roman „Die Verweigerung der Wehmut“,  bereits 1985 erschienen und 2023 in der vorzüglichen Übersetzung von Fabjan Hafner neu aufgelegt, kehrt ein junger Mann nach dem Tod seines Vaters in die Bergwelt der Karawanken zurück, um Abschied zu nehmen. Ein Abschied, der in eindringlicher poetischer Verdichtung zu einem Ereignis der Erinnerung wird: an die Rituale des Alltags und der Armut inmitten eines kargen ländlichen Daseins, an die Schrecken der Kindheit inmitten des Krieges, an die Archaik der Bergwelt und die Ungleichzeitigkeit der abgeschiedenen Lebensformen.

Vergleichbar hiermit der Roman „Hundert Jahre Blindheit von Roman Rozina, Jahrgang 1960, der sich auf seine Weise ebenfalls mit der Geschichte seines Landes auseinandersetzt. Der Titel enthält eine Anspielung auf den 1967 erschienenen Welt-Bestseller „Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez. Doch statt von Einsamkeit ist hier von Blindheit die Rede – von der Blindheit eines Jahrhunderts der Kriege, der Gewalt, der Verwerfungen, der Umbrüche. Erzählt wird diese Geschichte aus der Perspektive eines blinden Kindes namens Matija, das die Irrungen und Wirrungen seiner Zeit doch in hellsichtiger Weise durchschaut.

Auf eine ganz andere Weise als solche Familensagas erzählt der Roman „Verfluchte Mistelnvon Nataša Kramberger, Jahrgang 1983, von der Dimension der Hoffnung. Die Protagonistin des Werks, autobiographisch geprägt, erhält unverhofft die Chance, den alten Hof ihrer Mutter in Slowenien zu übernehmen und diesen unter Nutzung althergebrachter Methoden des ökologischen Landbaus zu retten.

Hin- und hergerissen zwischen ihrem Wohnort, der kosmopolitischen Metropole Berlin, und dem scheinbar altmodischen slowenischen Landleben, beginnt die Erzählerin ihre überkommenen Annahmen und Vorstellungen peu à peu in Frage zu stellen. Es geht um die Beziehung zwischen Mensch und Natur, um Mythologien und übernatürliche Erscheinungen, um den Kampf gegen Misteln und Frost und ebenso gegen Bürokraten und Investoren. Das alles wird humorvoll, kritisch und selbstironisch erzählt, zum Teil fragmentarisch und diskontinuierlich, mit einem offenen, gleichwohl hoffnungsvollen Ende.

Was die genannten Werke verbindet, ist die Dimension der Kämpfe, die in ihnen ausgetragen werden. Nirgendwo wird die unentfaltete Hoffnung verklärt. Vielmehr werfen stets Bedrohungen – und das heißt hier: die verarbeiteten Erfahrungen der Vergangenheit – ihre Schatten voraus in eine mögliche Zukunft.

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