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Wirtschaft: Anna Radtke

Geb. 1907

Ein neuer Mann? Nein! Da hätten Frank Sinatra oder Omar Sharif kommen können. Frau Radtke, hallo! Sind Sie da?

Frau Radtke schaute im Fernsehen am liebsten „Die Waltons“, „Unsere klei- ne Farm“, Tennis, Eiskunstlauf und Fußball. Ungefähr in dieser Reihenfolge. Sie verstand nicht jedes Wort, weil sie ihr Hörgerät nie aufsetzte. Vom Rest erzählte sie ihrer Schwiegertochter. – „Die Geschichte ging doch ganz anders, Mutti.“ – „Ach, wirklich?“

Frau Raaadtke!

Es war nicht einfach, Frau Radtke zu besuchen. Neben ihrem Fernseher stand ein kleines Gerät, das Lichtblitze aussendete, wenn jemand klingelte. Nur achtete Frau Radtke nicht auf die Blitze, wenn sie ihre Lieblingssendungen sah.

Die Waltons ähnelten den Radtkes in vieler Hinsicht: Ehrliche, sparsame, fleißige Menschen. „Unsere kleine Farm“ erinnerte Anna an ihre Eltern, die Tagelöhner waren. Tennis guckte Anna, weil sie für Boris Becker und Steffi Graf schwärmte. Eiskunstlauf wegen Kati Witt. Fußball wegen Lothar Matthäus.

Die Waltons hatten einen freundlichen Drehbuchschreiber. Die Weltwirtschaftskrise setzte ihnen zu, aber richtig schlimm wurde es nie. Bei den Radtkes lief es nicht so gut. Erst zerstörten Bomben ihre Wohnung, dann kam Paul, Annas Mann, als Kriegsgefangener nach Sibirien.

Anna und ihre vier Jungs bekamen in der Libauer Straße, Friedrichshain, eine leerstehende Ladenwohnung. Anderthalb Zimmer. Das Außenklo unter der Treppe teilten sie sich mit dem Friseur und dessen Kundschaft. Zur Nutzung berechtigt war auch der Untermieter im halben Zimmer. In der Waschküche, fünf Treppen höher, stand ein großer Bottich: Nach der Wäsche kamen die Kinder rein.

1932, als Anna und Paul gerade geheiratet hatten, reichte das Geld nur für ein Durchgangszimmer in der Dolziger Straße. Die Wirtin ging da jeden Morgen um sieben durch und fragte: Wie lange wollt ihr denn noch im Bett liegen?

Vorher kannte Anna nur Dienstbotenzimmer. Mit 14 wurde sie zum ersten Mal „in Stellung gegeben“. Da lernte sie, so gründlich zu putzen, dass ein weißer Damenhandschuh beim Drüberfahren weiß blieb. Hausmädchen war eine geachtete Position. Fühlte sich Anna ungerecht behandelt, sagte sie es ihrer Mutter. Die ging dann zu den Herrschaften und beschwerte sich. Notfalls kündigte Anna und fing woanders an.

Nach dem Krieg erhielt sie eine Anstellung im „VEB Hausglanz“. Hausglanz putzte die Büros der hohen Tiere von Partei und Staat. Und doch reichte Annas Gehalt nicht, um die Kinder zu versorgen. Sie nahm private Putzstellen an, wusch fremde Wäsche und hatte kaum Zeit für ihre Jungen. Die streunten nach der Schule durch die Stadt. Beim Baden lernten sie einen Mann kennen, der ihnen gut gefiel – ein neuer Vater? Der Mann war interessiert, doch Anna lehnte ab. Da hätten Frank Sinatra oder Omar Sharif kommen können. Sie hielt Paul die Treue, sie fühlte sich nicht als Witwe. Sie feierte Silberne Hochzeit und später die Goldene. Pauls Platz blieb immer frei.

Anna hat nie schwimmen oder Rad fahren gelernt. Sie hatte nie ein Auto oder ein Telefon. Die Errungenschaften der modernen Küche musste man ihr mühevoll aufschwatzen – und Kaffeemaschine und Rührgerät verstaubten auf dem Schrank. Ach was, sie verstaubten gar nicht: Anna hat ja regelmäßig geputzt. Jeder Wochentag war einem Putzthema gewidmet: montags Matratzen bürsten, dienstags Staub wischen, mittwochs die Böden wischen und so fort.

Es ist nicht so, dass Anna in der Vergangenheit lebte. Sie las bunte Magazine. Besonders das Schicksal von Boris Becker nach dem Ende seiner Tenniskarriere bewegte sie. Die schockierende Samenraub-Affäre in der Besenkammer diskutierte sie mit einer jüngeren Freundin. Bei aller Sympathie, Anna entschied sich, ihrem Boris in dieser Sache keinen Glauben zu schenken.

Am Ende verwirrten sich die Gedanken in ihrem Kopf. Sie musste ins Pflegeheim, unter fremde Menschen, die sie nicht verstehen konnte. Einmal am Tag kam ihr Jüngster zu Besuch. Darauf wartete sie den Rest der Zeit. Bis sie eine Lungenentzündung bekam.

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