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Wirtschaft: Berlin braucht die Osterweiterung der EU

TAGESSPIEGEL: Herr Pieroth, als Berliner Wirtschaftssenator galten Sie als amtsmüde.Sind Sie als Osteuropabeauftragter des Regierenden Bürgermeisters aufgewacht?

TAGESSPIEGEL: Herr Pieroth, als Berliner Wirtschaftssenator galten Sie als amtsmüde.Sind Sie als Osteuropabeauftragter des Regierenden Bürgermeisters aufgewacht?

PIEROTH: Fast 17 Jahre lang war ich Senator und davor zwölf Jahre Bundestagsabgeordneter.Das war lange genug.Jetzt bin ich endlich da angekommen, wohin ich seit meiner Jugend hin wollte.Ich habe noch Kriegsjahre erlebt.Mich hat dieses riesige Osteuropa immer fasziniert.Zunächst war das natürlich "Russen-Angst-besetzt".Jetzt haben wir die große Chance, daß das ganze Europa friedlich und freiheitlich wird, wenn es den Menschen auch in Osteuropa besser geht.Zur wirtschaftlichen Absicherung muß meine persönliche politische Zielsetzung, Entwicklung durch mehr Selbständigkeit, auch in Rußland Erfolg haben.Berlin hat Möglichkeiten, das Unternehmertum in Osteuropa zur Entfaltung zu bringen.

TAGESSPIEGEL: Was wollen Sie tun?

PIEROTH: Ich will dafür sorgen, daß Berlin die Stadt des Technologie-Transfers und des Handels mit Osteuropa wird.Ob wir es wollen oder nicht: Berlin ist der westlichste Platz Osteuropas.Die rund 100 000 Polen, Ungarn und Bulgaren in Berlin sind eine wertvolle ethnisch-soziokulturelle Voraussetzung für Berliner und viele Westdeutsche und Westeuropäer, die ein Ostgeschäft aufbauen wollen.Dasselbe gilt für die schätzungsweise 100 000 Russen in Berlin.Diese Osteuropäer können ihre unternehmerischen und verkäuferischen Fähigkeiten für den Export westlicher Waren in ihre Heimatländer nutzen.So wird Berlin für immer mehr Westfirmen, auch aus Frankreich und Amerika, als östlichster Platz Westeuropas interessant.

TAGESSPIEGEL: Wenn Sie die Berliner fragen, sollten die Menschen aus Osteuropa lieber wieder nach Hause fahren, anstatt hier zu bleiben und Arbeitsplätze zu besetzen.

PIEROTH: Das ist unser Heimspielproblem: aufzuzeigen, daß die Erweiterung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa die größte Entwicklungschance Berlins seit der Wiedervereinigung ist.Wo bisher Grenzen die natürliche Anziehungs- und Ausstrahlungskraft unserer Stadt beschneiden, wird Berlin seine Mittlerfunktion künftig wieder ungehindert wahrnehmen können.Und: Durch den EU-Beitritt werden unsere östlichen Nachbarn einen deutlicheren wirtschaftlichen Aufschwung haben und so stärker zu Kunden für unsere deutschen Produkte werden.Das schafft Arbeitsplätze bei uns.

TAGESSPIEGEL: Osteuropa als Berlins einzige Chance: Ist das das Fazit nach neun Jahren Wiedervereinigung?

PIEROTH: Jeder, der jemals geglaubt hat, Berlin werde mit der Wiedervereinigung seine alte Rolle wiederbesetzen, hat von Anfang an mehrere Denkfehler gemacht.Die Rolle Berlins als Finanzmetropole und Verkehrszentrum hat längst Frankfurt am Main übernommen.Und da wird sich auch nichts mehr ändern.Genauso, wie Hamburg und Amsterdam anstelle Berlins zu den Handelszentren Europas geworden sind.

TAGESSPIEGEL: Hängt sich Berlin selbst von der Entwicklung ab, wenn die Bankgesellschaft die Fusion mit der Norddeutschen Landesbank in den Sand setzt oder der Senat den Bau des Groß-Flughafens verzögert?

PIEROTH: Das ist Unsinn.Der Flughafen wird gebaut werden, und die Bankgesellschaft wird ihren Erfolg haben.Noch wichtiger ist: Berlins Chance liegt längst nicht mehr in seiner Lage, sondern in der Zusammensetzung der Bevölkerung, in einer Mentalität, uns von außen bereichern zu lassen.Unsere Chance liegt darin, für ausländische Einflüsse offener zu werden, den Mitbürgern aus West- und Osteuropa ein Forum zu werden, in dem man sich begegnet, handelt und sich gut aufgehoben fühlt.Berlin hat immer noch mehr als jede andere Stadt der Welt gut qualifizierte Wissenschaftler und Fachleute, die fließend Russisch sprechen und die Mentalität der Osteuropäer kennen.Diesen Vorteil müssen wir nutzen, bevor er uns verlorengeht.

TAGESSPIEGEL: Im Augenblick haben die Osteuropäer eher den Eindruck, daß sie aus der Europäischen Union ausgeschlossen werden sollen.

PIEROTH: Dazu wird es nicht kommen.Wir brauchen politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum in Mittel- und Osteuropa, und deshalb müssen die EU-Beitrittskandidaten so schnell wie möglich in die Europäische Union aufgenommen werden.Wegen der besonderen Grenzlage von Berlin brauchen wir für unsere Stadt eine Sonderbehandlung.Wir brauchen lange Übergangsfristen, um die Ängste der Menschen im Grenzgebiet abzubauen und zu beweisen, daß am Ende von einer größeren Gemeinschaft alle mehr profitieren.

TAGESSPIEGEL: Sehen Sie denn keine Gefahr, daß zwar Westdeutschland und Polen profitieren, im deutschen Grenzgebiet aber erst einmal Jobs und Wohlstand verlorengehen?

PIEROTH: Die Gefahr bestünde, wenn wir unsere Chancen nicht nutzten.Vor 40 Jahren gab es auch im Rheinland Ängste wegen der Öffnung der Grenzen zu Frankreich, Belgien und Holland.So wie damals das Rheinland der große Gewinner wurde, werden die Berliner und Brandenburger über kurz oder lang von offenen Grenzen zu Polen, Tschechien und Ungarn profitieren.Natürlich werden schon jetzt viele Arbeiten, die früher in West- oder Ostdeutschland erledigt wurden, in Osteuropa gemacht.Das läßt sich nicht ändern.Deutschland und vor allem Berlin aber müssen dafür sorgen, daß an die Stelle dieser lohnintensiven Arbeiten etwas anderes tritt, zum Beispiel mehr Export von Waren und Dienstleistungen, die unsere östlichen Nachbarn noch nicht anbieten können.

TAGESSPIEGEL: Was hat Berlin zu bieten?

PIEROTH: Der Infrastrukturbedarf Osteuropas ist nach wie vor so gewaltig, daß wir dort ein Feld für Exporte haben, das Berlin übrigens schon aus historischen Gründen immer besetzt hat.Werner von Siemens hat seine erste Telegrafenleitung nicht von Berlin nach Paris gebaut, sondern nach St.Petersburg.

TAGESSPIEGEL: Heute profitieren aber Berlin und Brandenburg kaum vom Osthandel.

PIEROTH: Doch.Wir haben durch den Handel mit Osteuropa in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr Arbeitsplätze verloren als gewonnen.Die Arbeitsplätze, die wir verloren haben, resultierten aus der Rückständigkeit der Berliner Wirtschaft im Vergleich zu Westdeutschland.In den vergangenen zwei Jahren aber haben die Berliner Exporte zum Beispiel nach Polen um sechzig Prozent zugenommen.Das zeigt, daß Berlin auf dem richtigen Weg ist.Dazu kommt die Wertschöpfung kleiner und mittlerer Gemeinschaftsunternehmen, wie sie von Osteuropäern in Berlin gegründet werden.Im Ostwest-Zentrum in Adlershof arbeiten heute schon 28 hochqualifizierte Mathematiker und Biologen aus Rußland, dem Baltikum und Polen in eigenen Unternehmen, die sie hier als zweites Standbein gegründet haben.

TAGESSPIEGEL: In Ihrer eigenen Partei hört sich das aber eher so an, als kämen nicht die Mathematiker, sondern die Bauleute, die Putzfrauen und die Schwarzarbeiter.

PIEROTH: Natürlich kann man in einer Parteiversammlung mehr Stimmung machen, wenn man die Gefahren und die möglichen Konfliktfelder an die Wand malt.Aber: Wo wären wir denn heute, wo wäre die Berliner CDU ohne die Radunskis und Landowskys? Das waren doch keine Ur-Berliner.Es sind aber heute Ur-Berliner Namen.Das ist es: Berlin hat immer davon gelebt, daß es Talente angezogen hat.Daß begabte Menschen und Ingenieure vom Land in die Großstadt gewandert sind.So ist Siemens nach Berlin gekommen, und so ist Borsig nach Berlin gekommen.Wenn diese Stadt die Fähigkeit verliert, Menschen aufzunehmen und ihnen zu einer neuen Heimat zu werden, wird sie nie wieder eine wirtschaftliche Rolle spielen.

TAGESSPIEGEL: Wie wollen Sie die Berliner bekehren?

PIEROTH: Entscheidend ist, daß die Berliner dafür sorgen, daß Osteuropäer als zukünftige Kunden und damit Garanten unserer Arbeitsplätze sich wohl fühlen.Als Osteuropabeauftrager werde ich z.B.möglichst jeden Mittwoch ein Frühstück geben, zu dem die wichtigsten osteuropäischen Gäste eingeladen sind.Das soll so eine Art Ideen- und Kontaktbörse werden, die unkonventionelle Hilfe für Alltagsprobleme anbietet.Im Idealfall werden die Hoteliers schon nach kurzer Zeit ihre osteuropäischen Gäste auf dieses Frühstück hinweisen.Ähnlich kümmere ich mich um osteuropäische Messeaussteller, Kongreßteilnehmer und Journalisten.Und das Allerwichtigste: Ich will für jede Berliner Firma da sein, die nach Mittel- und Osteuropa verkaufen will, Türen im Ausland öffnen und sonstwie behilflich sein.

TAGESSPIEGEL: Das klingt eher nach Graswurzelarbeit als nach einem spektakulären Job mit schnellen Erfolgen.

PIEROTH: Es kommt nicht auf große politische Grundsatzerklärungen an, sondern auf das Systematisieren der kleinen Erfolge.Das ist unternehmerisches Handeln.Das liegt mir bekanntlich.Und wer weiß schon, ob einer der Gründer in Adlershof nicht irgendwann ein Siemens oder ein Borsig sein wird.

TAGESSPIEGEL: Schaffen die Berliner das nicht auch selbst?

PIEROTH: Sicherlich, aber das würde zuviel Zeit kosten.Berlin hat eine Unternehmerlücke, die es aus eigener Kraft nur mit sehr viel Zeit schließen wird.Nicht nur die deutsche Teilung, auch der Nationalsozialismus und die Vernichtung der Juden haben dieser Stadt große Teile ihrer Elite geraubt.

TAGESSPIEGEL: Was würde vor diesem Hintergrund ein Aufschieben der EU-Mitgliedschaft für Polen, Ungarn und Tschechien bedeuten?

PIEROTH: Es wäre ein schmerzlicher Verlust.Denn Berlin würde seine Chance auf eine Führungsrolle in diesem Integrationsprozeß verlieren, und Tausende Berliner würden unnötig lange arbeitslos bleiben.Wir haben durch unsere Rußlandexporte heute schon etwa 7000 Arbeitsplätze, durch unsere Polenexporte 5000 in der Stadt.Durch die EU-Osterweiterung wird eine Exportanstieg um 50 Prozent erwartet.

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