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Wirtschaft: Bund und Kommunen streiten über Arbeitslose

Clement warnt vor „Wildwuchs“ bei der Zuordnung / Berliner Sozialsenatorin und Verbände weisen Vorwürfe als empörend zurück

Von Antje Sirleschtov

Berlin - Kurz vor Bekanntgabe der neuen Rekord-Arbeitslosenzahl Anfang kommender Woche ist zwischen Bundesregierung und Kommunen heftiger Streit über die Verantwortung für Langzeitarbeitslose ausgebrochen. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) warf den Kommunen vor, ehemalige Sozialhilfeempfänger zu Beziehern von ArbeitslosengeldII (ALGII) gemacht zu haben, obwohl sie nicht erwerbsfähig und damit auch nicht vermittelbar seien. Die Kommunen wiesen dies zurück.

Clement sprach am Dienstag vom „Wildwuchs“ bei der Einstufung. Er beklagte: „Wir sind von den Krankenkassen darauf hingewiesen worden, dass selbst Komakranke als arbeitsfähig erklärt wurden, oder auch Aids- und Suchtkranke.“ Clement warf den Kommunen vor, sich mit solchen Maßnahmen von der Zahlung der Sozialhilfe befreien zu wollen. Der Chef der AOK im Südwesten, Rolf Hohberg bestätigte den Vorwurf Clements. „Die Kommunen melden Menschen mit HIV, mit Leberzirrhose, beidseitiger Beinamputation und sogar welche, die im Krankenhaus liegen, der Arbeitsagentur als erwerbsfähig im Sinne von Hartz IV“, sagte Hohberg der „Stuttgarter Zeitung“. Dabei handele es sich nicht um Einzelfälle, sondern um Methode. Das Hartz-IV-Gesetz regelt, dass erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger seit Januar das ALGII erhalten und somit der Bund für sie aufkommt. Als erwerbsfähig gilt, wer zwischen 15 und 65 Jahre alt ist und täglich mindestens drei Stunden arbeiten kann. Für die restlichen Sozialhilfeempfänger zahlen weiterhin die Kommunen.

Clement muss damit rechnen, dass die Arbeitslosenzahl von Februar, die am kommenden Dienstag verkündet wird, nochmals deutlich über der Rekordzahl von 5,04 Millionen im Januar liegt. Kann diese Zahl im Laufe des Jahres nicht deutlich verringert werden, drohen der Bundesregierung neben dem politischen Schaden Mehrkosten in Milliardenhöhe. Spekulationen, die Mehrkosten würden bei mehr als sechs Milliarden Euro liegen, wiesen Regierungssprecher und Kommunalverbände zurück. Der Präsident der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, bestätigte jedoch der „Financial Times Deutschland“ indirekt, dass HartzIV 6,4 Milliarden Euro mehr kosten könnte als geplant. Hinter diesen Angaben stehen Hochrechnungen der Arbeitslosenzahlen und der Ausgaben der BA im Januar. „Die Rechnung ist plausibel“, sagte Weise.

Den allgemeinen Trend, wonach die Kommunen auch Sozialhilfeempfänger in die Jobcenter geschickt haben, die im Grunde nicht vermittelbar sind, bestätigte der Verwaltungsratschef der BA, Peter Clever, indirekt. „Die Bundesagentur muss jeden einzelnen Fall genau prüfen“, sagte Clever dem Tagesspiegel. Ob sich dabei herausstellt, dass die falsche Zuordnung der Betroffenen ein Massenphänomen sei, wie Clement unterstellt, wird sich nach Clevers Einschätzung allerdings frühestens im Sommer zeigen.

Der Arbeitsmarktdezernent des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Uwe Lübking, wies den Vorwurf zurück, die Kommunen würden sich mutwillig auf Kosten des Bundes reich rechnen. Bereits vor der Verabschiedung von Hartz IV sei klar gewesen, dass eine Prognose über die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht vor März 2005 abzugeben sei. Lübking sagte, dass in vielen Kommunen Alleinerziehende bis Ende 2004 Sozialhilfe erhalten haben, obwohl sie arbeitsfähig sind. Das habe der Gesetzgeber letztlich behoben, dürfe sich nun aber nicht über deren Status als Arbeitslose beschweren.

Berlins Sozialsenatorin Heidi KnakeWerner (PDS) kritisierte Clements Äußerungen: „Ich bin über diese Diskussion richtig sauer.“ Die Sozialämter könnten aus ihrer Erfahrung besser beurteilen, wer arbeitsfähig sei und wer nicht. „Ich finde es unverschämt zu sagen, dass jemand, der obdachlos ist oder ein Suchtproblem hat, nicht erwerbsfähig ist. Wo kommen wir denn da hin?“ Die Berliner Jobcenter weisen jedoch auf Schwierigkeiten hin. „Auch wenn die Definition per Gesetz eindeutig ist, so ist es in der Realität oft schwer zu entscheiden, ob ein Mensch tatsächlich erwerbsunfähig ist“, sagte Ingrid Wagener vom Jobcenter Tempelhof- Schöneberg dem Tagesspiegel. Beispiel: Ein 55-jähriger Sozialhilfeempfänger, der alkoholsüchtig ist und vom fachärztlichen Dienst als grundsätzlich arbeitsfähig eingestuft worden ist – wenn auch mit Verweis auf die Sucht. In solchen Fällen müsse der Sachbearbeiter entscheiden, ob der Mann erwerbsunfähig ist oder nur schwer vermittelbar. Da sei es möglich, dass auch Klienten an die Arbeitsagenturen überwiesen worden seien, deren Erwerbsfähigkeit zumindest fraglich ist.

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