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Das soziale Europa vor Gericht: EuGH entscheidet über Mindestlohnrichtlinie
Gewerkschaften befürchten das Ende einer sozialen Lohnpolitik, Arbeitgeber hoffen auf Annullierung der Richtlinie und haben den Generalanwalt an ihrer Seite.
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Die Anspannung ist groß. Arbeitnehmervertreter sehen an diesem Dienstag die „Idee des sozialen Europa“ vor Gericht, Arbeitgeber wiederum hoffen auf die Annullierung eines Gesetzes, das die Arbeitsbedingungen in der EU verbessern soll. Das wäre aus Sicht des DGB „eine große Enttäuschung für die Beschäftigten in Europa“. Für Gewerkschaften sei „die Europäische Mindestlohnrichtlinie die seit Jahrzehnten wichtigste arbeits- und sozialpolitische Regelung in der EU“.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet am Dienstag über deren Rechtmäßigkeit. Mit einer Mehrheit von 24 der 27 Mitgliedstaaten hatte der EU-Rat im Herbst 2022 die „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“ angenommen, die europaweit ein angemessenes Mindestlohnniveau gewährleisten und Tarifverhandlungen stärken soll.
Dänemark und Schweden stimmten dagegen, da sie ihr spezielles Tarifmodell gefährdet sahen; Ungarn enthielt sich der Stimme. Dänemark, wo es traditionell eine hohe Tarifbindung gibt, klagte gegen die Vorgabe aus Brüssel.
Als „großer Schock für alle Befürworter eines sozialen Europas“ (DGB) wirkten dann am 14. Januar dieses Jahres die Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH, des zypriotischen Juristen Nicholas Emiliou, der die Richtlinie nicht mit EU-Recht vereinbar sieht. Der Schock sitzt auch deshalb so tief, weil in rund 75 Prozent der Fälle der EuGH dem Generalanwalt folgt.
Regelung der Löhne obliegt den EU-Mitgliedstaaten
Die EU hat zwar Kompetenzen für den Bereich des Arbeitsrechts, für die Regelung der Löhne gibt es jedoch Grenzen. Der Generalanwalt befand, dass die Mindestlohnrichtlinie die Regelung des Arbeitsentgelts zum Gegenstand habe, was die Gesetzgebungskompetenz der EU überschreite. Emiliou argumentierte, die Richtlinie greife trotz ihrer indirekten Herangehensweise in die Festsetzung von Löhnen ein.
Die Richtlinie enthält Vorgaben für den Mindestlohn und die Tarifbindung. Danach sollen die Mitgliedstaaten Lohnuntergrenzen anstreben, die 60 Prozent des jeweiligen Medianentgelts (brutto) respektive 50 Prozent des Durchschnittsentgelts erreichen. „Dies greift unmittelbar in die Bestimmung des Arbeitsentgeltes ein“, meint dazu die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
Ferner sieht die Richtlinie eine Tarifbindung von 80 Prozent vor. Wenn Mitgliedstaaten darunter bleiben, müssten „Aktionspläne“ zur Erhöhung der Quote aufgestellt werden. In Deutschland fallen nur noch knapp die Hälfte der Beschäftigten unter den Schutz eines Tarifvertrags. Auch deshalb will die Bundesregierung ein Tariftreuegesetz einführen, das Unternehmen verpflichtet, Tariflöhne zu zahlen, wenn sie Aufträge des Bundes ab einem Volumen von 50.000 Euro annehmen.
„Die zu erreichenden 80 Prozent Tarifbindung sind als Zielmarke zwar wünschenswert, werden sich aber nicht durch politische Vorgaben erreichen lassen. Nur durch gemeinsame Verhandlungen können attraktive Tarifverträge entstehen“, heißt es dazu bei der BDA.
Das ist indes nur möglich, wenn es überhaupt Verhandlungspartner gibt. Durch die Etablierung sogenannter OT-Verbände (ohne Tarif) hat die BDA die Schwindsucht des Tarifsystems und der Tarifbindung in den vergangenen Jahrzehnten forciert.
Befürworter der Mindestlohnrichtlinie verweisen auf andere Vorgaben aus Brüssel, die auch die Lohnpolitik betreffen und rechtens sind. Dazu gehören die Entsenderichtlinie mit dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ oder Richtlinien zu prekären Arbeitsverhältnissen, die Leiharbeitnehmer sowie befristet oder in Teilzeit Beschäftigte betreffen. Ferner gibt es Vorgaben aus Brüssel zur Entgeltangleichung von Mann und Frau.
In den „Blättern für Internationale Politik“ wird die Frage aufgeworfen, wie Arbeitgebervertreter behaupten könnten, „die EU sei nicht befugt, einen Rahmen für angemessene Mindestlöhne festzulegen, nachdem die EU ein Jahrzehnt lang Druck auf die Regierungen ausgeübt hatte, Mindestlöhne zu senken und Tarifverträge zu durchlöchern“. Die Einschätzung des Generalanwalts, bestimmte sozialpolitische Entscheidungen seien allein Sache der Mitgliedstaaten, um die Sozialpartnerschaft in den Ländern zu schützen, sei „reine Fiktion“.
Die Mindestlohnrichtlinie strebt nicht die Festlegung eines europaweit einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns an; vielmehr sieht sie die Förderung sozialpartnerschaftlicher Strukturen zur Lohnfestsetzung vor.
Österreichs Arbeits- und Sozialministerium
Das österreichische Arbeits- und Sozialministerium vertritt den Standpunkt, die Mindestlohnrichtlinie „strebt nicht die Festlegung eines europaweit einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns an; vielmehr sieht sie die Förderung sozialpartnerschaftlicher Strukturen zur Lohnfestsetzung vor“.
Falls der EuGH die Richtlinie kippt, beginnen die Diskussionen über Schlussfolgerungen. Die Gegner des Bundestariftreuegesetzes (BTG), das gerade in der Endabstimmung durch Fachpolitiker der schwarz-roten Koalition ist, würden das BTG infrage stellen und zumindest Aufweichungen und Ausnahmen durchzusetzen versuchen.
Auf den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland hat die EuGH-Entscheidung vorerst keine Auswirkungen. Im Juni hat die Mindestlohnkommission eine Erhöhung der Lohnuntergrenze von derzeit 12,82 Euro auf 13,90 Euro zum 1. Januar 2026 und auf 14,60 Euro ein Jahr später beschlossen. Zur Geschäftsgrundlage der Kommission gehörten dabei explizit die Vorgaben der EU-Richtlinie. Diese Grundlage fehlt womöglich, wenn im Juni 2027 die nächste Entscheidung der Mindestlohnkommission ansteht.
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