
R+V-Chef Rollinger über die Ängste der Deutschen: „Die Wähler fürchten, dass die Politiker Probleme nicht mehr sauber lösen“
Die R+V-Versicherung untersucht, was den Bürgern Furcht einjagt. Ein Gespräch über Politik, Bankschließfächer und autonome Busse.
Norbert Rollinger sitzt seit 2009 im Vorstand der R+V-Versicherung und ist seit 2017 Chef der Versicherungsgruppe. Der promovierte Jurist und Betriebswirt begann seine Karriere bei der Unternehmensberatung McKinsey und wechselte danach in die Versicherungsbranche zur DBV-Winterthur, Axa und Generali. Der 55-Jährige ist auch Präsidiumsmitglied im Versicherungsverband GDV.
Herr Rollinger, die R+V-Versicherung untersucht seit fast 30 Jahren, was den Bundesbürgern Angst einflößt. Warum tun Sie das?
Versicherungen haben das Ziel, die Ängste der Kunden überflüssig zu machen. Deshalb wollen wir als einer der größten deutschen Versicherer genau wissen, welche Risiken die Menschen am meisten fürchten und welche Sicherheitsbedürfnisse sie haben. Darüber hinaus ist das aber auch unser Beitrag zur Gesellschaftspolitik. An unserer jährlichen Angststudie kann man ablesen, was die Gesellschaft bewegt.
Glaubt man Ihrer aktuellen Umfrage, haben die Menschen am meisten Angst davor, dass der Staat Geflüchtete nicht integrieren kann, die Politiker überfordert sind und der Extremismus in Deutschland zunimmt. Schade, dass es keine Versicherungen gegen schlechte Politik gibt.
Solche Umfrage-Ergebnisse sind ein Spiegel unserer aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation. Wir sehen das ja gerade in Thüringen, aber nicht nur dort. Eine Partei allein ist nicht mehr in der Lage, eine Regierung zu stellen. Zweier-, Dreier- oder Viererbündnisse nehmen zu. Solche Regierungen suchen aber immer nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, das erhöht bei den Wählern den Frust. Sie haben das Gefühl, dass ihre Themen nicht mehr aufgegriffen werden, vor allem kritische. Das führt zu der Angst, dass die Politiker Probleme nicht mehr sauber lösen.

Sie als Versicherer gehen ja nicht nach dem Bauchgefühl, sondern Sie berechnen Risiken. Wo sehen Sie derzeit die größten Gefahren für die Bürger? Wovor sollten wir Angst haben?
Man sollte vor nichts Angst haben müssen. Versicherer sind ja dazu da, den Menschen zumindest einen Teil ihrer Ängste zu nehmen. Jeder macht sich Sorgen um seine Arbeitskraft, seine Familie, seine Gesundheit und die Frage, ob man im Alter genug Geld hat. Aber für all diese Sorgen haben wir Lösungen.
Wenn es um das Alter geht, ist man mit einer Lebensversicherung aber nicht mehr so gut bedient – dank der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank.
Die Nullzins-Politik leistet der Altersarmut Vorschub, indem sie die Menschen davon abhält zu sparen. Heute wird man mit Negativzinsen bestraft, wenn man spart. Viele Leute geben daher ihr Geld bedenkenlos aus und erleben ihr böses Wunder, wenn’s im Alter knapp wird. Für uns als Versicherer ist es im Moment extrem schwierig, für die Altersvorsorge zu werben.

Kein Wunder, wenn die Beiträge der Kunden immer weniger Zinsen abwerfen.
Ich gehe in der Tat davon aus, dass der Höchstrechnungszins ...
... der sogenannte Garantiezins, der für die gesamte Laufzeit garantiert ist ....
.... von derzeit 0,9 Prozent weiter sinken wird. Wir Versicherer können uns dem Kapitalmarkttrend nicht entziehen.
Wie gut, dass die Politik dann wenigstens die Provision der Versicherungsvertreter für Lebensversicherungen beschränken will.
Nein, das ist doch ein Hohn. Die Politik erschwert die Altersvorsorge und will dann noch die Gruppe, die Menschen berät, wie sie am besten vorsorgen, mit einem Provisionsdeckel bestrafen.
Verkaufen Sie überhaupt noch Lebensversicherungen?
Ja, sehr viele sogar. Und man sollte die Versicherungen auch nicht schlechtreden. Bei den klassischen Policen bekommen Sie auf Ihren Sparanteil eine Garantieverzinsung von 0,9 Prozent plus Überschussbeteiligung. In diesem Jahr kommen da zwei bis drei Prozent Zinsen zusammen. Wenn man bedenkt, dass 30-jährige Bundesanleihen gar keine Zinsen mehr bringen, ist das doch höchst attraktiv. Aktien schwanken, Immobilienpreise können wieder sinken, die Lebensversicherung ist stabil. Es gibt ja Prognosen, nach denen die Zinsen bis zum Jahr 2050 niedrig bleiben. Die Menschen werden immer älter, eine finanzielle Absicherung für das Alter wird daher immer wichtiger.
Die Politik will die gesetzliche Rentenversicherung stärken. Wer braucht da noch eine private Versicherung?
Die gesetzliche Rentenversicherung braucht schon heute einen Bundeszuschuss von 100 Milliarden Euro pro Jahr. Das liegt an den versicherungsfremden Leistungen, die das Umlagesystem belasten. Bevor der Steuerzahler aber noch weitere Milliarden zuschießt, sollte man doch lieber bei den drei Säulen bleiben – also der Rentenversicherung, der betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Da gibt es sicherlich noch Reformbedarf.
Man könnte zum Beispiel die Riester-Rente wieder abschaffen.
Nein, die Riester-Rente ist ein Erfolgsmodell. 15 Millionen Menschen haben inzwischen einen Riester-Vertrag. Wenn man das Zulagensystem vereinfacht und mehr Menschen in das System einbezieht, etwa die Beamten, kann sich die Riester-Rente zu einer starken Säule entwickeln.
Man könnte aber auch statt der Riester-Rente eine kostengünstigere Standardlösung in Form eines Staatsfonds einführen, wie Verbraucherschützer und Politiker vorschlagen.
Wir halten Wettbewerb für den besten Weg. Der Staat ist selten ein guter Treuhänder. Auf jeden Fall dann, wenn es um obligatorische Lösungen geht, müssen die Menschen die Wahl haben zu einem privaten Anbieter zu gehen. Ich finde, wir sollten das bestehende System reformieren. Warum gibt der Staat nicht zu jedem Euro, den man in eine betriebliche Altersvorsorge oder einen Riester-Vertrag steckt, 50 Cent als Zulage dazu? Der Staat spart doch jedes Jahr zweistellige Milliardenbeträge durch die Niedrigzinspolitik. Es ist an der Zeit, den Bürgern Geld zurückzugeben.

Immer mehr Leute legen aus Angst vor Strafzinsen ihr Geld in Bankschließfächer oder Tresore und wollen sich dann aber mit einer Versicherung gegen den Verlust absichern. Stellen Sie fest, dass die Nachfrage nach solchen Policen bei Ihnen wächst?
Die Nachfrage ist schon seit einigen Jahren sehr groß. Der Kunde muss wissen, dass es die absolute Sicherheit nicht gibt. Wer sein Geld aus Angst vor Strafzinsen in einem Bankschließfach oder einem privaten Tresor deponiert, sollte deshalb unbedingt an Versicherungsschutz denken. Bargeld, das zu Hause unverschlossen aufbewahrt wird, ersetzen wir über die Hausratversicherung bis maximal 2000 Euro. Geldkassetten oder Möbeltresore sind für Einbrecher meist kein Hindernis. Wenn der Kunde bereit ist, in qualitativ hochwertige Sicherheitsmaßnahmen zu investieren, versichern wir allerdings auch hohe sechsstellige Beträge. Hier geben unsere Berater den Menschen wertvolle Tipps.
Was ist mit Bankschließfächern?
Die sind günstiger. Dort ist Bargeld bis 30.000 Euro automatisch über die Hausratversicherung abgedeckt. Für die Kunden der Genossenschaftsbanken bieten wir darüber hinaus eine Kundenschließfachversicherung an, die Bargeld bis zur vereinbarten Höhe ersetzt. Sie tritt ein, wenn beispielsweise das Kreditinstitut überflutet wird oder Kriminelle die Schließfächer ausrauben.

Die Angst vor Altersarmut ist ein großes Thema, der Klimawandel ein anderes. Wie wichtig ist das Thema für die Versicherungswirtschaft?
Sehr wichtig. Wenn die Erderwärmung weiter zunimmt, nehmen Starkregenfälle, Überschwemmungen und Stürme ebenfalls zu. Der Meeresspiegel wird steigen, Häuser an der Küste werden häufiger überschwemmt. Wir reagieren darauf mit einem verstärkten Risikomanagement und einer differenzierten Preispolitik.
Die Bundesregierung will Verbrenner gegen E-Autos austauschen, um die Luft zu verbessern. Sind Elektroautos teurer in der Versicherung?
Nein, im Gegenteil. Bei uns bekommen reine E-Autos jetzt einen Beitragsnachlass in der Autoversicherung von 25 Prozent, Hybrid-Modelle zehn Prozent. Das ist unser Beitrag, um E-Autos zu fördern. Wir können das aber auch versicherungstechnisch rechtfertigen, weil E-Autos einfacher aufgebaut sind, das heißt die Reparaturen sind billiger. Ganz unproblematisch sind E-Autos aber auch nicht, denn die Ladesäulen beziehen teilweise ja auch Braunkohle-Strom. Und die Batterien sind eine Risikoquelle. Wir gehen jedoch davon aus, dass es hier technische Fortschritte geben wird. Meiner Meinung nach wären Wasserstoffantriebe für unsere Industrie besser geeignet, weil es hier anders als bei der Batterie nicht so sehr auf Rohstoffe ankommt.

Was ist mit den E-Rollern? Die Fahrer bauen häufig Unfälle. Ihnen als Versicherer kann das nicht gefallen.
Wir haben im Moment einige Hundert E-Roller in unserem Bestand. Das ist zu wenig, um belastbare Aussagen zu machen. Wir behalten die Entwicklung aber im Blick. Derzeit bewegen sich die Versicherungsprämien auf dem Niveau von Mopeds. Aber Sie haben recht, viele Fahrer halten sich nicht an die Regeln. Sie fahren auf dem Bürgersteig, und in einem Drittel der Fälle stehen verbotenerweise zwei Personen auf dem Roller. Ich vermute, dass der Staat über kurz oder lang regulierend eingreifen wird.
Sie testen schon länger autonom fahrende Autos. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Wir haben unsere autonom fahrenden Busse am Frankfurter Flughafen, in Marburg und Mainz getestet. Die Busse sind für den Linienverkehr zugelassen, und sie fahren sehr sicher. Autonome und teilautonome Autos können Verkehrsunfälle reduzieren. Wir Versicherer geben in Deutschland jedes Jahr 20 Milliarden Euro aus für die Folgen von Verkehrsunfällen – die Behandlung von Verletzten, die Bestattung von Unfalltoten. Jedes Jahr sterben mehr als 3000 Menschen im Straßenverkehr. Die neue Technik kann helfen, den Verkehr sicherer zu machen. Allerdings fürchte ich, dass es noch einige Jahre dauern wird, bis autonome Autos in den Innenstädten fahren. Sie werden erst auf Autobahnen und Firmengeländen unterwegs sein. In den Innenstädten werden wir verstärkt Sharing-Angebote haben und Elektromobilität.
Wie verändert die Digitalisierung Ihr Geschäft?
Wir müssen unsere Arbeitsweise komplett verändern. Wir müssen schneller werden und flexibler. Wir leben in einer Zeitenwende. Wir haben es mit völlig neuen Anforderungen zu tun, etwa der Künstlichen Intelligenz. Wir können jetzt enorme Daten speichern und auswerten, das sind ganz andere Geschäftsmodelle. Ich denke, die Versicherungen werden sich immer mehr spezialisieren.
Wann habe ich es bei Ihnen mit einer KI zu tun statt mit einem Mitarbeiter?
Wenn Sie einen Glasschaden haben, wird der schon heute vollautomatisch verarbeitet. Die Software erledigt das allein und veranlasst auch die Auszahlung. 70 Prozent der Fälle laufen in einigen Schadensbereichen so.