Investoren: Russland im Sog der Krise
In Russland wächst die Angst vor den Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise. Die heimische Bankenbranche könnte stärker betroffen sein als zunächst vermutet, warnen Experten.
Die Gefahr steigt, dass internationale Investoren ihr Geld abziehen und die Wachstumsraten sinken. Erstmals seit zehn Jahren hob die russische Notenbank in der vergangenen Woche die Sätze für Rücklagen, die private Banken für Liquiditätskrisen bilden müssen, drastisch an. Das letzte Mal hatten die Währungshüter diese Notbremse im August 1998 gezogen, als faule Staatsanleihen einen großen Finanz- crash verursachten.
Dieses Horror-Szenario könnte sich jetzt wiederholen, fürchten Finanzexperten. Seit Ende letzter Woche, berichtet die stets gut informierte Wirtschaftszeitung „Kommersant“, hätten Maßnahmen, mit denen die drohende Liquiditätskrise in letzter Minute abgewendet werden soll, absolute Priorität. Das Blatt beruft sich dabei auf einen Teilnehmer des Geheimtreffens. Die Pressestelle der Bank wollte bisher weder dementieren noch bestätigen.
Die schärfsten Töne kommen vom ehemaligen Ministerpräsidenten Jegor Gaidar: Hoffnungen, dass Russland sich angesichts der Turbulenzen an den internationalen Börsen zu einem sicheren Hafen für westliches Kapital auswachsen könne, seien durch nichts gerechtfertigt, warnte er am Freitag auf einer wissenschaftlichen Tagung. Wenn die russische Regierung nicht umgehend auf den globalen Kurssturz reagiere, sagte Gaidar, werde dies für das Land „katastrophale Folgen“ haben. Sogar das böse Wort von der Deflation – ein gleichzeitiges Auftreten von Inflation und Rezession – geht ihm und anderen Experten inzwischen leicht über die Lippen. Grund zur Sorge gibt es in der Tat: Seit der Krise 1998 haben sich die Preise für Energie mehr als verzehnfacht. Strukturreformen zur Diversifizierung der Wirtschaft fanden nicht statt. Die verarbeitende Industrie ist nicht vorhanden oder nicht konkurrenzfähig, weil sie mit zu hohen Kosten produziert. Die Folge: Russland ist Importweltmeister. Von der Milch bis zum Mercedes kommt alles aus dem Ausland. Der Saldo der Außenhandelsbilanz wird schon in diesem Jahr erstmals negativ ausfallen. Selbst wenn die Weltmarktpreise für Öl und Gas, den wichtigsten Exportgütern, auf dem gegenwärtig hohen Niveau verharren.
Gaidar rechnet sogar mit sinkenden Erlösen – und steht damit nicht allein. Die Bedenken seien kein bisschen überzogen, sagt auch Vize-Finanzminister Sergej Schatalow. Leider würden die Bedrohungen aus politischen Gründen – gemeint sind die Anfang März anstehenden Präsidentenwahlen – momentan nicht einmal diskutiert.
Gaidar fürchtet einen weltweiten Abschwung als Folge der Finanzkrise. Dadurch sinke die Nachfrage für Öl, Gas und Metalle. Sackt das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern auf unter zwei Prozent ab, verringert sich der Bedarf an Energieträgern und Erzen erfahrungsgemäß um zehn bis 30 Prozent. Die Folge: ein Preissturz. Mit verheerenden Konsequenzen für Rohstoffexporteure. Allen voran Russland, dessen beeindruckendes Wirtschaftswachstum fast ausschließlich durch Ausfuhr von Bodenschätzen zustande kommt. Zuwachsraten von jährlich sieben Prozent könnten dann schnell auf zwei bis drei Prozent zusammenschnurren. Umso mehr, da ausländische Investoren bei ersten Alarmzeichen ihr Geld aus Russland abziehen dürften.