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Wirtschaft: Geb. 1979

Timo Felix Kind

Von David Ensikat

Timo Felix Kind

Am Vormittag des 24. Dezember 2003 schrieb er mit ordentlicher Handschrift auf ein liniertes Blatt Papier:

Ich, Timo Kind, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte,verfüge hiermit, dass meine Eltern sämtliche Vollmachten über meine Konten und Wertanlagen erhalten. Zusätzlich auch alle anderen Dinge, die mich betreffen.

Am Nachmittag fuhr er zu seinen Eltern, zog das Weihnachtsmannkostüm an und lief hinüber zu den Nachbarskindern. So war es ausgemacht. Heiligabend dann mit der Familie, alles war wie immer, man redete und lachte. Mit Bruder Axel unterhielt sich Timo noch bis tief in die Nacht – kein Wort aber über sich. Timo fragen, wie’s ihm geht, das brachte ja nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Niemand hätte ihn verstanden.

Am nächsten Tag die Disko. Stunden verbrachte Timo auf der Tanzfläche, tanzte, wie nur er es konnte, die Frauen guckten ihm nach, die Freunde beneideten ihn darum. Timo tanzte, bis seine Sachen schweißnass waren, allein, die ganze Zeit. Timo ganz bei sich. Ob er an das Ende dachte?

Ein paar Tage zuvor hatte er an seine Schule geschrieben:

Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit beendige ich das Schulverhältnis, aufgrund meines gesundheitlichen Zustandes, zum 19.12. Die mir ausgehändigten Bücher erhalten Sie von mir zurück. Mit freundlichen Grüßen

Er war gerade dabei, sein Fachabitur zu machen, die Dinge liefen gut. Die Klassenleiterin versuchte, ihn zu erreichen, nachzufragen – Timo war doch gesund, was war da los? Sie sprach auf seinen Anrufbeantworter, Timo rief nicht zurück.

Der letzte Freitag im Januar. Oliver, ein Freund, wollte tags darauf nach Spanien fliegen, da rief Timo noch mal an. Und Oliver staunte: „Mensch, du rufst an? Passiert ja selten.“ – „Kannste mal sehen. Überraschungen passieren.“ Einen wichtigen Grund schien es für den Anruf nicht zu geben, sie sprachen über Timos Geburtstag, eine Woche später, ja, sicher werde er den feiern, wie immer in seiner Wohnung – „Komm doch vorbei.“

Am nächsten Tag ging Timo zu Woolworth jobben, verabschiedete sich freundlich, ging nach Hause, machte seine Wohnung sauber wie noch nie, räumte die Regale aus, um sie auszuwischen, legte zwei Kassetten nebens Bett, die er in den Monaten zuvor besprochen hatte, und nahm sich das Leben.

Auf den Kassetten steht „Abschied Timo ’04 I“ und „Abschied Timo ’04 II“. Die Eltern haben sie bis heute nicht angehört, sie sind noch nicht so stark. Sie haben eine Psychologin gebeten, die Aufnahmen zu analysieren.

Die Psychologin sagt, man müsse sich Timos Welt auf zwei Gleisen vorstellen. Auf dem einen rauschte er dahin, auf dem anderen die anderen. Dazwischen keine Weiche, kein Hinüberkommen.

Timo hat die Kassetten in den letzten Monaten besprochen. Die Psychologin erzählt, die Eltern machen Notizen: …bin nicht fürs Leben geboren… erreiche die Leute nicht… es hat mich besiegt… keiner soll sich Vorwürfe machen… ich kann ja nichts sagen… die Alternativen: Psychiatrie, Straße, Selbstmord…

Was hätten wir tun sollen?, fragen die Eltern, das fragen alle, die Timo kannten, für die Timo der Freundliche war, der immer Hilfsbereite. Das fragen die vom anderen Gleis.

Und sie erinnern sich auf einmal.

Radfahren lernen. Timo, sieben Jahre alt, ist sich ganz sicher: „Ich kann das nicht!“ Also versucht er’s nicht einmal. „Ich kann das nicht!“ Schließlich überreden sie ihn – und er kann’s. Natürlich kann er es. Wenn Timo etwas will, dann kann er es. Er muss nur wollen, das ist das Problem.

November 1998, Timo kommt nach Hause, die Sachen regennass, und legt einen Beutel Schlaftabletten auf den Tisch. Er war gerade im Wald und wollte sich das Leben nehmen. Einfach so. Es hat begonnen zu regnen, darauf war er nicht vorbereitet. Die Eltern sind schockiert, was ist nur mit dem Jungen los? Sie bringen Timo in die geschlossene Klinik – und holen ihn am nächsten Tag gleich wieder ab. „Holt mich hier raus! Ich werd’ verrückt hier drin!“ Danach ist alles wie gehabt. Timo funktioniert wieder.

Ein Gespräch mit der Mutter: „Ich glaube ich bin zu früh ausgezogen. Das war nicht gut.“ – „Dann komm zu uns zurück, ist doch kein Problem.“ – „Ach, was soll das jetzt bringen?“ … „Mir ist ja immer alles in den Schoß gefallen. Kämpfen wie der Axel musste ich nie, das hab’ ich nicht gelernt.“ – „Hm, na gut. Was soll man da jetzt tun?“ – „Weiß ich doch nicht. Was soll’s.“

Die Depressionen. Tagelang hat Timo seine Wohnung nicht verlassen, lag auf dem Bett, starrte an die Decke. Im letzten Herbst fanden ihn die Eltern so, sie nahmen ihn zu sich, und schon am nächsten Tag schien alles wieder gut. Timo blieb drei Wochen, genoss es, dass die Mutter ihm das Essen kochte, lernte für die Schule.

Die Mutter meinte, ihren Sohn zu verstehen. Sie weiß von früher, wie das ist, wenn man versinkt, wenn man nur heulen könnte, wenn die anderen fragen: „Was hast du denn? Es ist doch alles gut.“ Und nichts ist gut. Sie weiß, wie das ist. Aber sie hat nie geahnt, dass ausgerechnet er, ausgerechnet Timo jemals diese Konsequenz aufbrächte. Dieses Wollen. Dieses fortwährende Bewusstsein: „Ich bin hier falsch“, auch gültig in Momenten voller Klarheit.

Die Gleise. Timo auf dem einen, alle anderen daneben. Es war ja nicht nur so, dass Timo nicht hinüberkam. Auch alle anderen kamen nicht zu ihm. Sie konnten Blicke hinüberwerfen; jetzt, da alles vorbei ist, können sie sie deuten. Ob sie hätten Weichen bauen können? Vielleicht. Wahrscheinlich nicht.

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