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Wirtschaft: Geb. 1980

Marius-Steffen Winkel

Auch die Mails an seine Freunde waren heiter. Ich freu mich auf euch alle, schrieb er da.

Sein Zimmer da oben, sagt die Mutter, das ist, als wär’ er gerade erst weg. Zur Schule, zu den Kumpels. Von denen gab es nicht viele, der Sohn war wählerisch. Doch die, die da waren, zu denen hielt er wie eine Burg. Und sie zu ihm. Manche der Freunde waren Autonarren wie er. Schnell mussten sie sein, die Karren, schnell wie sein Opel Tigra, und waren sie es nicht, dann wurde aufgerüstet.

Der Marius, sagt Schwester Julie, der wär’ ein super Techniker geworden. Computer, Handies, Autos – alles konnte der. IT-Kaufmann hätte er lernen können, die Lehrstelle war da. Hätte. Das Wort tut weh. Immer wieder, allen dreien. Mutter, Vater, Schwester. Im Haus in Kladow. Das Marius-Zimmer wollen sie so lassen, wie es ist, bis auf weiteres.

„Bis auf weiteres“ kann lange dauern. Zu unfassbar die Tatsache, dass der Junge tot ist. Zu unglaublich die amtliche Nachricht, wie sein Leben ein Ende nahm. Ertrunken im Meer. Marius – ertrunken? Ein junger, stattlicher Kerl mit Tauchschein – Verlierer im Kampf gegen ein paar Wellen? Er war doch sportlich, sagt die Mutter, er war doch Marius. Im Urlaub waren sie, im Lieblingsland der Winkels, in der Türkei. Antalya, endlich alle einmal wieder, auch Schwager und Schwägerin dabei. Glücklich und fröhlich waren diese Tage, sagt die Mutter, und Marius uns so nah.

War ja nicht nur Musterjunge, ihr ältester, war auch aufbrausend und stur zuweilen. Hat schon mal seine Tastatur zerkloppt, wenn alles schief lief, nicht nach seinem Willen. Doch alles andere – ausschließlich lobenswert, so sagen sie. Um den Opa kümmerte er sich rührend nach dessen Schlaganfall, und weil der so viel vom Krieg erzählte, mied Marius die Bundeswehr. Er wurde Zivi.

Im Urlaub dann kein Anzeichen von Missmut, sagt die Mutter, auch keine Traurigkeit bei ihrem Sohn. Sie sagt das, weil sich eine Frage immer anschleicht: Hat er vielleicht selbst..? Die Winkels sagen: Das hätte er uns nie angetan, er liebte die Familie. Und hat doch Golf gespielt im Urlaub, obwohl er immer meinte: Das ist Opa-Sport! Hat sich neu eingekleidet in Antalya, obwohl Klamottenkaufen Horror für ihn war. Und auch die Mails an seine Freunde waren heiter. Ich freu mich auf Euch alle, schrieb er da.

Die Leichtigkeit dieser Ferien – sie verschwand am letzten Tag. Sie feierten noch Vaters Fünfzigsten, sie spielten Bingo, die Kinder gingen später tanzen. Dort, in der Disko, sagt Julie, hat sie ihren Bruder richtig schwoofen sehen. Allein. Das erste Mal in seinem Leben. Bald ging auch Julie ins Bett, der Bruder blieb inmitten einer Fußballmannschaft, die sich hier zum Umtrunk traf. Sturm Graz. Was dann begann, die Winkels sagen, war ein Alptraum.

Zuerst noch nahm der Sicherheitsdienst die Sache locker: Ihr Sohn ist fort?, fragten die. Wie alt ist er? Erst 21? Der ist mit einem Mädel fort! Doch bald schon blieben diese Sprüche aus. Die Polizei kam, denn der Junge tauchte nicht mehr auf, und es vergingen Tage. Hunde und Hubschrauber suchten bald nach Marius. Die Mutter sagt: Ich weiß nicht, wie wir alles überstanden haben. Die Stunden im Hotel, das Warten in der Lobby.

Sie sind nicht durchgedreht, weil immer Hoffnung da war. Bis zum letzten Tag, dem sechsten. Da flogen Mutter und auch Schwester wieder heim, der Vater blieb. Er war ganz stumm geworden. Am Flughafen wartete der Chef des Suchtrupps. Er hatte Blumen in der Hand. Jetzt haben sie mein Kind, fuhr es der Mutter durch den Kopf. Doch der Polizist wollte nur auf Wiedersehen sagen. Und dieses auch: Wir suchen weiter! Wir finden ihn!

Sie bargen Marius am Strand, angespült und alles bei sich, Papiere, Geld. Was war passiert? Ging er ins Wasser, weil er einem anderen helfen wollte? War vielleicht doch Alkohol im Spiel? Haben die Ärzte etwas übersehen? Das ist bis heute offen, sagt die Mutter, und darum tut es doppelt weh. Immer, sagt sie, hat Marius geschafft, was er so wollte. Warum dieses nicht?

Judka Strittmatter

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