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Wirtschaft: Horst Grützner

(Geb. 1928)||Mal 4000 für die Miete, mal 400 für alles. Ein Leben in Amplituden.

Mal 4000 für die Miete, mal 400 für alles. Ein Leben in Amplituden. Drei Männer in einer Bar. Der Erste, der hinterm Tresen, lässt Bier in ein Glas laufen. Der Zweite sitzt auf dem Barhocker und schaut dem Dritten dabei zu, wie der fluchend auf die von Zigarettenasche und Bier verschmierte Theke haut. Irgendwann holen die beiden Ersten tief Luft und fallen dem Dritten scharf ins Wort. Eine alte Bebopmelodie übertönt den Streit. Die drei verstummen, wenden sich um. Im verrauchten hinteren Teil der Bar steht eine junge Frau, eine Schallplattenhülle in der Hand. Die Männer nicken dem Mädchen anerkennend zu – dann fallen sie erneut aufeinander ein.

Als es dämmert, wankt der Dritte zum Telefon und ruft seine Sekretärin an: „Mein Geld reicht nicht!“ Sie kommt, zerzaust, mit Ringen unter den Augen, und bezahlt die Rechnung. Die beiden verlassen das Lokal, er stößt den Autoschlüssel mit erstaunlicher Genauigkeit ins Schloss, die Sekretärin kauert sich auf den Beifahrersitz, der Mercedes 300 rast die Straße hinunter, rammt eine Laterne, rollt weiter in die Altstadt, touchiert ein Taxi und kollidiert mit einem parkenden Auto.

Die Staatsmacht misst 2,7 Promille im Blut von Horst Grützner, entzieht ihm für neun Monate den Führerschein und steckt ihn sechs Wochen in den Knast.

Täglich kommt ein Mitarbeiter mit der Unterschriftenmappe in die Zelle. An der Wand hängt eine Karte mit dem Satz „Keiner hat das Recht zu gehorchen“.

30 Angestellte beschäftigt das Architekturbüro „Grützner & Gestering“ in Bremerhaven, sie bauen Omnibusbahnhöfe, Schulen und Mehrfamilienhäuser, gestalten das „Glaslager“ in der Berliner Alten Jacobstraße neu, heute Berlinische Galerie. Nächtelang sitzen die Mitarbeiter über ihre Reißbretter gebeugt, immer neue letzte Striche ziehend, erschöpft und glücklich dann im grauenden Morgen, wenn der Entwurf fertig und gelungen ist. Horst Grützner läuft dann los, kauft Blumen, Kaffee und Sekt für alle. Zu Hause wartet seine Frau. Vergeblich. Er liebt eine andere. Die Ehe zerbricht mit Getöse. Zurück bleiben vier Kinder.

Zerwürfnisse häufen sich: Sein Partner geht, seine Liebe auch, Mitarbeiter stellen ihn zur Rede, kündigen.

Horst Grützner hat die Stadt satt, kauft sich einen Bauernhof, Schafe, Hunde, Katzen. Doch er bleibt rastlos, kehrt zurück nach Bremerhaven, mietet eine alte Villa, richtet oben sein Büro und unten Veranstaltungsräume ein. Thomas Quasthoff singt dort Schubert, Eva-Maria Hagen tritt auf, Biermann. Horst Grützner organisiert, trinkt, geht in den Puff. Er gründet eine Baufirma, arbeitet sechs Tage in der Woche, verprasst das Geld, trinkt weiter. Bis der wankende Boden unter ihm zusammenstürzt: Herzinfarkt, Konkurs. Ihm wird der Strom abgestellt. Die Miete bezahlt das Sozialamt. Immerhin: Er rührt keinen Tropfen mehr an.

Ein, zwei Mal schnellt die Amplitude noch in die Höhe: Mit dem Mauerfall kommen neue Aufträge. Die alten Zeiten scheinen wieder greifbar. Horst Grützner zieht in eine Neustrelitzer Villa, für 4000 Mark im Monat. Doch die wichtigsten Bauvorhaben scheitern.

Ein Reisender, der von Neustrelitz nach Berlin kommt, muss in Lichtenberg aussteigen. Die Gegend wird Horst Grützner vertraut. 400 Euro hat er jetzt im Monat. Eine Wohnung, ein Zimmer, Parterre, marode Wasserrohre, kann er sich leisten. Frei fühlt er sich nun zumindest, sagt er, vom Druck, vom Geld, vom Alkohol. Er malt, fährt Fahrrad. Isst kein Fleisch mehr, kaum Zucker.

Und er steht am Ende auf der Theaterbühne, als Statist in Salome, Emilia Galotti, Faust, kostümiert, geschminkt, mit großer Geste. Ein alter Traum, wie er mal erzählte.

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