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Frank Bsirske ist seit der Gründung im Jahr 2001 Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

© dpa

Agenda 2010: „Martin Schulz hat das richtige Thema“

Verdi-Chef Frank Bsirske über die arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen des Kanzlerkandidaten der SPD.

Herr Bsirske, ging es der deutschen Wirtschaft je besser als derzeit?

In den 1950er und 60er Jahren haben wir in der Bundesrepublik Vollbeschäftigungsphasen gehabt, die sich dem Export und der wachsenden Binnenwirtschaft verdankten. Beide Faktoren haben auch in jüngster Zeit gegriffen, wobei inzwischen auch die zunehmende Nachfrage im Inland als Wachstumstreiber wirkt.

Weil die Leute mehr Geld haben.

Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und tarifpolitischen Korrekturen hin zu ordentlichen Einkommenserhöhungen ist die Agenda 2010 ein Stück weit überwunden worden.
Was hat die Agenda mit Löhnen zu tun?

"Die Schwächung der Gewerkschaften wurde in Kauf genommen"

Die Erleichterung von Lohnkürzungen ist ein Kern der Agendapolitik. Dazu gehört zum Beispiel die Absenkung des Anspruchslohns, zu dem ein Arbeitsloser bereit ist, eine Arbeit aufzunehmen. Nachdem ein langjähriger Arbeitnehmer und Beitragszahler bereits nach einem Jahr Arbeitslosigkeit im Hartz-IV-System landet, ist die Agenda ein Synonym für sozialen Absturz geworden. Die Schwächung der Gewerkschaften wurde dabei billigend in Kauf genommen. Dies und die Deregulierung des Arbeitsmarktes haben den Druck auf die Löhne erhöht und soziale Absicherung ausgehöhlt.

Aber die Arbeitslosigkeit ist heute nur noch halb so hoch wie vor gut zehn Jahren.

Das hängt mit den Exporterfolgen zusammen, die jedoch zunehmend kritisch gesehen werden. Wir brauchen als zweites Standbein eine Stärkung der Binnennachfrage – und dazu Änderungen an der Agendapolitik, wie sie mit dem Mindestlohn und ersten rentenpolitischen Korrekturen begonnen worden sind.

Die große Koalition hat auch Leiharbeits- und Werkverträge gedeckelt.

Das reicht nicht aus, um die Unsicherheit zu bekämpfen, die sich im Gefolge der Agenda 2010 breitgemacht hat und die sich ja auch in den Ergebnissen der vergangenen Landtagswahlen zeigt: Neben der Flüchtlingsthematik beschäftigen die Menschen vor allem Fragen, die mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben.

Obwohl es vielen so gut geht wie noch nie?

"Die Mietbindung im sozialen Wohnungsbau läuft ab"

Es gibt unterschiedliche Ursachen für das Unbehagen über die Zustände im Lande. Viele Menschen registrieren exorbitante Managergehälter und Managerrenten von ein paar tausend Euro am Tag und sorgen sich selbst um die Höhe ihrer eigenen Rente. In den Ballungsgebieten wird bezahlbarer Wohnraum immer knapper, bis 2030 läuft die Mietbindung in der Hälfte der Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus aus. Und in vielen Arbeitsbereichen steigt die Arbeitsverdichtung über die Belastungsgrenze hinaus, zum Beispiel in Krankenhäusern.

Und das wird besser mit Martin Schulz?

Es ist richtig, dass er den Wunsch nach Veränderung aufgreift und die soziale Gerechtigkeit zum Thema macht. Dazu gehören eine neue Sicherheit in der Arbeit, zum Beispiel durch höhere Tarifbindung, sichere Renten und die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung. Und dazu gehört ein handlungsfähiger Staat, der Geld steckt ins Bildungssystem, in die öffentliche Infrastruktur und in die Pflege von kranken und alten Menschen und sich nicht hinter der „schwarzen Null“ versteckt. Wir brauchen einen Kurswechsel zur sozialen Gerechtigkeit und zum sozialen Zusammenhalt. Martin Schulz macht sich das zu eigen, gut so. Ich würde mir wünschen, dass auch in der Union die Sensibilität für das Thema wächst.

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