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Mehrwertsteuer: Mit dreierlei Maß

Die verschiedenen Mehrwertsteuersätze sind undurchschaubar. Ökonomen wollen Ermäßigungen abschaffen – aber sind damit allein.

Berlin - Es ist eigentlich ganz einfach. Wer über das deutsche Mehrwertsteuerwesen Bescheid wissen will, muss neben dem Umsatzsteuergesetz nur das 140 Seiten starke Anwendungsschreiben des Finanzministeriums studieren, Geschäftszeichen IV B 7 -S 7220 -46/04. Dazu das jüngste Gutachten des Bundesrechungshofes, 44 Seiten dick, sowie die rund 300 einschlägigen Gerichtsurteile der vergangenen zehn Jahre.

Die Frage, wann der Fiskus auf Waren und Dienstleistungen die Mehrwertsteuer voll, ermäßigt oder gar nicht erhebt, ist nicht trivial. Äpfel aus dem Supermarkt, grün und glänzend, werden mit sieben Prozent besteuert. Bei Apfelsaft, im selben Markt gleich nebenan, sind es 19 Prozent. Milch begünstigt der Staat mit sieben Prozent, Milchmixgetränke aber nur, wenn der Milchanteil mindestens 75 Prozent beträgt. Auf Wachteleier gibt es einen Rabatt, auf Pilze und Trüffel nur, wenn sie nicht in Essig eingelegt sind. Wer eine Regionalbahn besteigt, profitiert beim Fahrscheinkauf vom Steuerrabatt, wer den ICE wählt, zahlt den vollen Satz. Alles klar?

„Ein wirres System“, sagt der frühere Wirtschaftsweise Rolf Peffekoven. „Niemand versteht das mehr.“ Auf etwa 23 Milliarden Euro verzichtet der Staat pro Jahr durch die Ausnahmen von der Mehrwertsteuer. Seit 1968 gibt es den ermäßigten Satz, es begann mit Lebensmitteln und Kulturgütern. Mit der Zeit gelang es immer mehr Lobbyverbänden, für ihre Produkte die Ermäßigung zu erstreiten.

Damit soll nun Schluss sein, die Koalition braucht Geld. Beim aktuellen Sparpaket hat sie sich noch nicht an eine Reform bei den Steuerausnahmen herangetraut. Ideen soll nun im Herbst eine Kommission liefern. Zuvor will die Regierung noch auf ein Gutachten der Uni Saarbrücken zum Thema warten. Doch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) warnt bereits vor zu hohen Erwartungen an die Reform der Mehrwertsteuersätze. 17 der 23 Milliarden Euro, die dem Staat entgehen, entfallen auf den ermäßigten Satz für Nahrungsmittel. „Wer will denn dessen Streichung vorschlagen“, fragte Schäuble im Interview mit dem Tagesspiegel am Sonntag rhetorisch.

Auch bei allen anderen Vorschlägen dürfte der Aufruhr bei den Wirtschaftsverbänden gewaltig werden. Wie 2003, als der damalige SPD-Finanzminister Hans Eichel die Vergünstigungen für Tierfutter und Schnittblumen kassieren wollte – und im Bundesrat scheiterte. Auch wegen der Mehrwertsteuer steht das deutsche Steuerrecht in dem Ruf, das komplizierteste der Welt zu sein. „Wenn man da rangeht, muss man es möglichst umfassend machen“, rät auch Olaf Schulemann vom Bund der Steuerzahler. Mache man es zu kleinteilig und nehme nur ein paar Vergünstigungen aufs Korn, habe es die Lobby leicht, Druck aufzubauen.

Welches Produkt aus welchen Gründen einen Rabatt bekommt, erschließt sich allenfalls Spezialisten in Ministerien und Finanzämtern. Mit Systematik hat es jedenfalls nichts zu tun. Die Einteilung in ermäßigte und nicht ermäßigte Güter und Leistungen zeigt, dass sich die Beamten mit einer gewissen Leidenschaft mühen, die komplizierte Lebenswirklichkeit in die Steuergesetzgebung zu überführen.

So ist Trinkwasser aus der Leitung begünstigt, Mineralwasser in Flaschen nicht. Für Gewürze wie Majoran oder Basilikum gilt der halbe Satz, für Mischungen, Kräuter der Provence etwa, der volle. Trüffel, Krabben und Garnelen schlagen mit sieben Prozent zu Buche, Hummer und Langusten mit 19 Prozent.

Überhaupt, die Tierwelt: Für Rennpferde gilt Rabatt, für Wild- oder Zirkuspferde nicht. Buckelochsen sind begünstigt, Moschusochsen nicht, Haustauben auch, Kanarienvögel nicht. Maultiere sind begünstigt, Hausesel nicht – nach der Schlachtung gibt es aber wieder Rabatt.

Auch Bücher und Zeitungen werden ermäßigt, Malbücher für Kinder aber nur, wenn auszuschließen ist, dass auf mehr als der Hälfte der Seiten eine Bastelschere zum Einsatz kommt. Hörbücher dagegen werden voll besteuert, sie gelten als Tonträger. Dem vollen Steuersatz unterliegen auch Klassik-CDs. Wer sich eine Sinfonie dagegen live in der Philharmonie anhört, wird vom Staat dafür belohnt. Kunstfreunden, die viel Geld für Originale ausgeben, gewährt der Fiskus einen Rabatt. Wer sich nur Kopien von Gemälden, Stichen oder Skulpturen leisten kann, ist mit dem vollen Satz dabei.

Frische Blätter, Zweige, Gräser und Moos, mit denen Kränze gebunden werden, unterliegen dem ermäßigten Steuersatz. Werden sie getrocknet, geht der Vorteil verloren. Ein Adventskranz ist deshalb nur dann begünstigt, „soweit frisches Material charakterbestimmend ist“.

Rundfunkgebühren und Arzthonorare sind sogar komplett steuerfrei. Wer zu Gesundungszwecken eine Sauna aufsucht – Fachleute sprechen von einer medizinischen Versorgungsleistung – bekommt die Ermäßigung. Wer dagegen im Fitnessstudio oder im Erlebnisbad schwitzt, muss den vollen Satz zahlen. Wer auf eine Prothese angewiesen ist, kann beim Kauf auf Hilfe vom Staat zählen. Braucht er aber ein Ersatzteil dafür, ist die volle Mehrwertsteuer fällig.

Ein Quell steter Verwirrung ist die Gastronomie, nicht erst seit dem Mehrwertsteuer-Bonus für Hoteliers. Eine im Restaurant verzehrte Pizza kostet den vollen Satz; wer sie mitnimmt, erhält den Rabatt. Dass Kellner beim Kassieren immer auf den feinen Unterschied achten, ist zu bezweifeln. Immerhin geht es um einen Steuervorteil von zwölf Prozentpunkten.

Das Urteil des Bundesrechnungshofs zu diesem Wirrwarr fällt vernichtend aus. „Das ursprüngliche Ziel der Vergünstigung, bestimmte Güter des lebensnotwendigen Bedarfs aus sozialpolitischen Gründen zu verbilligen, trifft heute auf viele Ermäßigungstatbestände nicht mehr zu“, klagt Behördenpräsident Dieter Engels und empfiehlt „eine grundlegende Überarbeitung“.

Doch wie das System zu ordnen wäre, ist strittig. Ökonomen empfehlen, den ermäßigten Satz komplett abzuschaffen. Dass er unverzichtbar ist, um den Armen zu helfen, hält der Wirtschaftsforscher Friedrich Heinemann vom Mannheimer Forschungsinstitut ZEW für „ein großes Märchen“. Die Steuer sei „ein sehr schlechtes und ungenaues Förderinstrument“ – sie nutze auch der Mittelschicht, und bei ermäßigten Tickets für Konzerte oder Opern subventionierten die Armen sogar die Wohlhabenden. Würde man die Ermäßigung ganz abschaffen, könnte sich der Staat zudem die Bürokratie rund um den Steuerrabatt sparen – für Heinemann „ein Riesenschritt nach vorn“.

Auch Ökonom Peffekoven plädiert für die Abschaffung des Sieben-Prozent-Satzes. „Im Gegenzug kann man die direkten Transfers, etwa die Sozialhilfe, erhöhen und zugleich den allgemeinen Satz auf 16 Prozent senken.“

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