Wirtschaft: Ursula Opalka
(Geb. 1919)||Mit der Schreibmaschine kam sie zum Radio: Man brauche sie hier!
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Mit der Schreibmaschine kam sie zum Radio: Man brauche sie hier! Niemand weiß, warum das Kind liest. Die Mutter liest nicht, auch nicht der Vater. Ursula hockt unter einen kleinen Lampe, täglich, bis spät in den Abend, auf den Knien ein Buch. Der Vater dreht die Sicherung heraus. Die Mutter sagt: Die Leserei wird noch dein Sargnagel sein, geh’ doch ins Schwimmbad, wie die anderen Kinder. Ursula packt ihren Badeanzug ein, macht sich auf den Weg, in die Stadtbücherei, liest den ganzen Nachmittag, läuft mit tausend Geschichten im Kopf wieder nach Hause, taucht aber zuvor den Badeanzug in einen Brunnen.
Im März 1939 legt sie ihr Abitur ab, als erste der Familie, könnte studieren. Der Vater sagt: „Für Hitler geht meine Tochter nicht unter die Kuh.“ Kein Hörsaal, keine Schreibpulte. Stattdessen ein trostloses Büro der Berufsgenossenschaft für Droschkenfahrer, einige Tage. Länger hält sie es nicht aus, in diesem „Mausoleum voll oller Schachteln“.
Der Krieg bricht aus.
Ursula lässt sich zur Fremdsprachensekretärin ausbilden, assistiert einem Beamten, der besetzte Güter in Polen verwaltet. Sie kommen nach Posen. Ursula beeilt sich mit der Arbeit, sie will in die Bibliothek. Dort fällt ihr ein Mann auf: Er liest, konzentriert, stundenlang. Ursula spricht den Mann an. Er heißt Bruno Opalka, kommt aus Berlin, ist Offizier der Luftwaffe und Doktor der Philosophie. Sie tauschen die Adressen, schreiben sich lange Briefe.
Bruno und Ursula treffen sich in Baden bei Wien, für einen Tag, heiraten.
Ursula flüchtet in den Harz, liest auch dort, sitzt allein zwischen hunderten alter Bücher. Weiß nicht, wo Bruno ist.
Der Krieg ist vorüber. Amerikanische Soldaten kommen in die Stadt. Sie sind misstrauisch, vermuten feindliche Sender hinter den Regalen der Bibliothek, stoßen die Bücher mit den Gewehrkolben von den Borden, werfen sie aus den Fenstern. Es beginnt zu regnen. Ursula schleicht in der Dunkelheit auf die Straße, holt so viele Bücher aus den Pfützen, wie sie tragen kann.
Bruno und Ursula treffen sich in Heidelberg, ziehen weiter nach Berlin, im Gepäck eine Reiseschreibmaschine.
Ursula klemmt sich die „Erika“ unter den Arm, läuft durch die Trümmer bis zum „Dias“, dem späteren „Rias“, sagt, man würde sie hier unbedingt brauchen. Der zuständige Mitarbeiter wirft einen Blick auf die Maschine. Nickt. Ursula baut das Nachrichtenarchiv auf. Hans Rosenthal und Joachim Fest volontieren bei ihr.
Zu Hause sitzt Bruno und schreibt. Schreibt hunderte, tausende Blätter voll, die niemals jemand lesen wird.
Zwei Töchter kommen zur Welt. Ursula verdient das Geld, Bruno schreibt. Manchmal springt er auf, schleudert seine Papiere vom Tisch, schreit. Ursula erfindet Gedichte für die Mädchen, malt, liest. Reicht die Scheidung ein.
Und sie studiert, doch noch, mit 50 Jahren, arbeitet am Tage, lernt in der Nacht, wird Lehrerin für Stenographie und Schreibmaschine. Blind schreiben können muss der Mensch, sagt sie, damit die Gedanken schnell aufs Papier fliegen.
Bisweilen erkrankt der Deutschlehrer an ihrer Schule. Ursula springt ein, einmal, zweimal, die Schüler mögen, wie sie über Effi Briest, über Tonio Kröger spricht, die Schulleitung gibt ihr mehr Stunden.
Ursula schläft wenig. Sie sitzt unter einer kleinen Lampe, korrigiert Aufsätze, liest bis in den Morgen. In ihrer Wohnung stapeln sich Bücher, überall, alte stockfleckige, neue, jeden Tag einige mehr, wuchern bis unter die Decke. Sie schreibt Gedichte, Hörspiele. Malt. Fährt nach Pisa und Florenz. Bringt Skizzen mit von Burgen und Bergen, ritzt sie später auf Kupferplatten, steigt nachts hinunter in den Keller, experimentiert an ihrer Presse.
Dann fühlt sie die rechte Hand nicht mehr. Schlaganfall. Sie nimmt den Stift, den Pinsel, in die linke Hand. Versucht ein Wort, eine Linie. Immer wieder. Sehr wenig steht drauf, viel mehr dahinter: / des Lebens Lauf, sein Frühling, sein Winter, dichtete Ursula Opalka.
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