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Die Berliner staunten auf der Gewerbeausstellung am 31. Mai 1879 über eine Lok. die ohne Rauch und Dampf ihre Kreise zog. Sie waren Zeuge der Geburtsstunde einer der wichtigsten technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts – der elektrischen Bahn.

© Siemens Historical Institute

Ein Besuch im Siemens-Archiv: Von Berlin nach München und zurück

Das Siemens-Archiv bewahrt 175 Jahre Industriegeschichte – ein Schatz des ältesten deutschen Weltkonzerns.

Im 16 Grad kühlen Keller strahlt Florian Kiuntke bei der Präsentation eines besonderen Schatzes: Der Gesellschaftervertrag, unterschrieben von Werner von Siemens und Johann Georg Halske am 1. Oktober 1847. Das Gründungsdokument von Siemens umfasst vier DIN-A4-Seiten mit zehn Paragrafen. Weil es dieses Papier gibt, ist der 175. Geburtstag von Siemens im kommenden Oktober gewissermaßen aktenkundig und kann ähnlich gefeiert werden wie vor sechs Jahren der 200. Geburtstag des Gründers: Mit einem Festakt und der Rede der Bundeskanzlerin respektive des Bundeskanzlers am Geburtsort und einstigen Firmensitz in Berlin.

1907 wurde das Arcihiv angelegt

Deutschland ist stolz auf Siemens und der Historiker Florian Kiuntke auf das Siemens-Archiv, das, wie es sich für einen Weltkonzern gehört, seit ein paar Jahren Siemens Historical Institute (SHI) heißt. 3500 Tonnen Datenträger, zumeist Papier, darunter Tausende Briefe des Gründers, wurden in 450 Lkw-Fahrten von München nach Berlin transportiert, als das SHI 2016 in seine ursprüngliche Heimat nach Siemensstadt zurückkehrte. Hier war das Archiv 1907 angelegt worden. „Bei der Vorbereitung des 60. Geburtstags hat man gemerkt, dass viele Unterlagen fehlten“, erzählt der Leiter des SHI, Florian Kiuntke. Der Historiker hat seine Doktorarbeit geschrieben über das mehr als 100 Jahre alte Siemens-Röntgenröhrenwerk im thüringischen Rudolstadt, das inzwischen zur Medizintechnikfirma Siemens Healthineers gehört, die ebenso vom Mutterkonzern abgespalten wurde wie das Energiegeschäft unter dem Namen Siemens Energy. Nichts bleibt, wie es war.

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Kiuntke betreut und ergänzt mit einem halben Dutzend Mitarbeitenden das Wissen über die Geschichte und Entwicklung des Technologieunternehmens. „Siemens beeinflusste damals das Leben mit technologischen Innovationen wie in unserer Zeit Apple", sagt Kiuntke bei einem Rundgang zwischen 10 000 Regalmetern mit rund 12 000 Büchern und eine Million Fotos. Der Großteil der 8000 Industrie- und Werbefilme ist inzwischen digitalisiert und lässt entsprechend mühelos einen Einblick zu in die Geschichte der Elektrotechnik und Elektronik, die ohne Siemens anders verlaufen wäre.

Der Historiker Florian Kiuntke leitet das Siemens-Archiv.
Der Historiker Florian Kiuntke leitet das Siemens-Archiv.

© SHI

Werner von Siemens wurde am 13. Dezember 1816 im niedersächsischen Lenthe geboren. Der Sohn eines Gutspächters war ein talentierter Tüftler mit großer naturwissenschaftlicher Begabung. Da die erbärmliche wirtschaftliche Situation ein Studium nicht zuließ - nach dem Umzug auf ein Gut in Mecklenburg ging es bergab mit der Familie – machte Werner beim preußischen Militär Karriere, wo er es zum Artillerie-Leutnant brachte (1838) und beim Ingenieurskorps ausgebildet wurde. Das mathematische Talent hatte zuvor auf dem Lübecker Katharineum eine Klasse überspringen dürfen. Bis 1849 blieb Siemens beim Militär; zwischendurch musste er ein paar Jahre in Magdeburg in Festungshaft, nachdem er als Sekundant bei einem Duell aufgefallen war. In der Zitadelle Magdeburg richtete er sich ein Versuchslabor ein, in dem er die elektrische Galvanisierung erfand. Noch während der Militärzeit, eben im Oktober 1847, gründete er in Berlin mit dem Mechaniker Johann Georg Halske die „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“.

In Schöneberg stand die erste Werkstatt

Es ging los in der Schöneberger Straße am Askanischen Platz, dort stand die erste Werkstatt. Die Arbeitsteilung der Gründer funktionierte so: Siemens hatte die Ideen und experimentierte, Halske konstruierte die Werkstücke und Werkzeuge, die notwendig waren, um aus Ideen verkaufsfertige Geräte zu machen.

Die industriellen Fertigung des Zeigertelegrafen legte die Grundlage, wie der Haushistoriker Kiuntke erzählt. Der Siemens Zeigertelegraf wurde ab 1848 auf der damals längsten europäischen Telegrafenlinie von Berlin nach Frankfurt am Main eingesetzt, wo in der Paulskirche die Nationalversammlung tagte. Zur Übertragung wird der Zeiger beim sendenden Apparat auf den gewünschten Buchstaben gestellt, was beim empfangenden Gerät eine entsprechende Verstellung des Zeigers bewirkt. Das neue Gerät revolutionierte die Kommunikationstechnik. Und Siemens/Halske verdiente genügend Geld, um weitere Projekte anzugehen. Eine Dynamomaschine zur Stromerzeugung, 1879 die erste Eisenbahn. 1880 waren bereits 1500 Personen für das Elektrounternehmen tätig, das 1897 ein unbesiedeltes Gelände nordwestlich von Berlin erwarb. Bis 1914 entstand hier ein neuer Stadtteil – die Siemensstadt.

Am Anhalter Bahnhof stand die erst Werkstatt von Siemens und Halske.
Am Anhalter Bahnhof stand die erst Werkstatt von Siemens und Halske.

© Siemens Historical Institute

Auf dem rasant wachsenden Elektromarkt passierte eine Menge Ende des 19. Jahrhunderts, wie in einem Fotoband des Siemens Historical Institute zu sehen ist. In den USA gründete der Ingenieur George Westinghouse 1886 die Westinghouse Electric Corporation (WES). Ein paar Jahre später fusionierte die Edison General Electric Company von Thomas Edison mit der Thomson-Houston Company zur General Electric Company (GE) – „bis heute einer der wichtigsten Wettbewerber von Siemens“, wie es im Bildband heißt. In der Schweiz entstand die Brown, Boveri & Cie., und auf dem Heimatmarkt gefährdete unter anderem die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft) AEG die Marktführerschaft von Siemens & Halske.

Fundgrube für Wissenschaftler

"Ich bin manchmal erstaunt, mit welchen Themen sich die Leute beschäftigen“, sagt SHI-Leiter Kiuntke im Gespräch mit dem Tagesspiegel über seinen Alltag, zu dem auch die Bearbeitung von Anfragen gehört. Eine Professorin aus Österreich bat das SHI um Material für eine Studie über die Geschichte des Büros. Oder Hobbyhandwerker, die alte Elektrogeräte auseinandergenommen haben melden sich bei Kiuntke, weil sie für das Zusammenbauen Tipps benötigen, etwa eine Konstruktionsskizze. Ein Brief von Werner von Siemens aus dem Jahr 1867 enthält die Zeichnung einer der ersten Dynamomaschinen.

Hilfen für Außenstehende gehören eher nachrangig zum Aufgabenspektrum des SHI. „Wir wollen für Siemens Mehrwert schaffen und die Botschaften des Unternehmens unterstützen“, erläutert Kiuntke das Selbstverständnis. Aktuell hat man zu tun mit den Vorbereitungen für den 175. Geburtstag, aber auch 50 Jahre nach den Olympischen Spielen in München ist das SHI gefordert, denn Siemens war als technologischer Dienstleister stark involviert in die Spiel vor der eigenen Haustür.

Bei 16 Grad lagern auf 10 000 Regalmetern unter anderem 12 000 Bücher und 8000 Industrie- und Werbefilme in den Kellern an der Nonnendammallee.
Bei 16 Grad lagern auf 10 000 Regalmetern unter anderem 12 000 Bücher und 8000 Industrie- und Werbefilme in den Kellern an der Nonnendammallee.

© Siemens Historical Institute

Nach dem Krieg und der Teilung von Stadt und Land hatte die Konzernführung die Hauptverwaltung Ende der 1940er Jahre von Berlin nach München verlegt, 1954 folgt das Siemens-Archiv. 2016 führte der Bau der neuen Unternehmenszentrale zum „Rückzug“: In München wurde es eng, aber am Traditionsstandort Berlin-Siemensstadt gab und gibt es reichlich Platz. In dem 1913 erbauten Verwaltungsgebäude an der Nonnendammallee stehen ausreichend Flächen und Räumlichkeiten zur Verfügung, die mit Hilfe von Siemens-Technik gekühlt und brandgeschützt werden. Die Exponatesammlung mit mehr als 10 000 historischen Objekten befindet sich noch in München. Das muss aber nicht so bleiben. „Wir würden gerne erweitern“, sagte SHI-Leiter Kiuntke.

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