Wirtschaft: Wo wir landen
Börsencrash, Abschwung und Reformchaos haben bei Unternehmern und Verbrauchern eine Vertrauenskrise ausgelöst – doch die Angst vor dem Absturz ist übertrieben
IN DER KRISE: WORAUF WIR UNS VERLASSEN KÖNNEN
Wirtschaft, sagte Ludwig Erhard, ist zur Hälfte Psychologie – und eine Sache des Vertrauens. Teilt man diese Auffassung, dann steht es wirklich schlecht um uns. Denn die Börsen, die Unternehmen, die Konjunktur und die Wirtschafts- und Finanzpolitik sind allesamt in eine Art Depression verfallen. Das Vertrauen ist zerrüttet: Wer glaubt noch an steigende Kurse? Wer traut noch den Bilanzen? Wer hofft noch auf den Aufschwung? Und kann man den Kanzler ernst nehmen, wenn er in seiner Regierungserklärung Reformen ankündigt, die unser Land zum „Zentrum der Zuversicht in Europa“ machen sollen?
Was zunächst wie die Katerstimmung nach den Aufschwungjahren aussah, hat sich zu einer handfesten Vertrauenskrise ausgewachsen. Sie betrifft fast alle Wirtschafts- und Lebensbereiche und wird zur Bedrohung für den Einzelnen, wenn aus einem allgemeinen Unwohlsein die nackte Angst um den Arbeitsplatz wird. Und nun plant die Regierung auch noch massive Kürzungen beim Arbeitslosengeld, Einschnitte im Gesundheitssystem und weniger Kündigungsschutz. „Das Selbstverständliche versteht sich nicht mehr von selbst“, sagt Jürgen Werner, Managerberater und Philosophieprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Schon die Frage, wie sich das verlorene Vertrauen – sei es zwischen Unternehmen und Anlegern oder der Regierung und dem Wahlvolk – wieder herstellen lässt, wecke Misstrauen. „Eigentlich sollte man über ein Basisphänomen wie Vertrauen in der Wirtschaft nicht nachdenken müssen, weil man es bisher immer voraussetzen konnte“, sagt Werner. Doch das hat sich geändert: „Es ist wie im Privatleben: Wer einmal betrogen wurde, verdächtigt selbst den Gutwilligen.“
Mit wohlmeinenden Appellen ist es also nicht mehr getan. An die Arbeit, sagen sich deshalb zum Beispiel Unternehmensberater, die – selbst von der Flaute getroffen – eine neue Marktlücke gefunden haben. Tatsächlich erscheint die Vertrauenskrise in den Unternehmen am ehesten beherrschbar. Überschaubare Organisationen, klare Hierarchien und Zuständigkeiten machen es den Consultants leichter, Rezepte anzubieten. Management-Guru Reinhard Sprenger bringt es so auf den Punkt: „Vertrauen führt“. Seine These: Von den drei Möglichkeiten, Mitarbeiter zu motivieren – mit Geld, Macht oder Vertrauen – habe das Vertrauen die größte „Sogwirkung“, weil es verpflichtend wirke. Dass Macht und Geld als Motivationsköder versagen, zeigen Bilanzskandale und überzogene Abfindungen wie bei Mannesmann. Vertrauen schaffe zudem quantifizierbare Wettbewerbsvorteile, sagt Sprenger. „Es rechnet sich und ist ein harter Faktor.“
Doch was im Kleinen gelingt, stößt auf großen Märkten an Grenzen. Zum Beispiel an der Börse. Wer sollte im Augenblick vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen, die Investoren zum Aktienkauf bewegen würden? Weder die Notenbanken noch der Gesetzgeber, der mit einer schärferen Aufsicht die Anlegerrechte stärkt, haben dies vermocht. Und die Reform-Rede des Kanzlers machte am Freitag bei Börsianern auch keinen Eindruck. Die Kurse stiegen zwar, aber nicht weil ein Ruck durch das Land ging, sondern weil die Anleger nach dem dramatischen Einbruch der Kurse zurzeit jede Gelegenheit nutzen, um verlorenen Boden gutzumachen.
„Wenn das Vertrauen zerstört ist, dann werden Anleger konservativ“, sagt Hartmut Kieling, Wirtschaftswissenschaftler und Börsenpsychologe an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Es sei deshalb nicht sicher, dass US-Anleger und Versicherungskonzerne, die sich vom deutschen Markt verabschiedet haben, je wieder zurückkämen.
Worauf können wir uns also noch verlassen? Was bleibt sicher? Auch nach den angekündigten Reformen und Einschnitten ins soziale Netz werden die deutschen Standards im Gesundheitswesen oder auf dem Arbeitsmarkt vergleichsweise komfortabel bleiben. Die Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft leidet darunter nach Meinung von Fachleuten nicht über Gebühr. „Auf dem Weltmarkt bleiben wir etwa im Vergleich zu asiatischen Volkswirtschaften sehr leistungsstark“, sagt Kieling. Auch wächst bei Unternehmern und Verbrauchern trotz des öffentlichen Krisengeheuls wieder die Zuversicht: Sowohl das Geschäftsklima als auch die Konsumneigung haben sich zuletzt verbessert.
Ein Hoffnungszeichen, glaubt Berater Reinhard Sprenger. Er setzt auf die heilsamen Wirkungen der Vertrauenskrise: „Wenn wir die alten Sicherheiten verlieren, wissen wir, dass man uns in die Freiheit entlassen hat.“ Genau diese Freiheit löst indes neue Ängste aus. Befinden wir uns im freien Fall oder springen die Fallschirme noch auf – im Gesundheitssystem, beim Kündigungsschutz, bei der Altersvorsorge, der Geldanlage oder in der Existenzsicherung? „Wir können uns darauf verlassen“, sagt Sprenger. „Nur nicht auf dem bisherigen Niveau.“