zum Hauptinhalt
„Staatlich verordnete Legasthenie“. Die Rechtschreibreform landete schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht.

© imago/blickwinkel

20 Jahre Rechtschreibreform: Das Ende von Majonäse, Grislibär und Ketschup

Vor 20 Jahren traten die Regeln der neuen Rechtschreibung in Kraft. Wie es zur Rechtschreibreform kam und was von ihr bleibt.

Majonäse, Grislibär und Ketschup – sie sind Geschichte. Als der Rat für deutsche Rechtschreibung die Regeln vor zwei Jahren überarbeitete, strich er diese seit der Rechtschreibreform erlaubten Schreibweisen. Sie hatten es nie geschafft, aus dem Schatten ihrer komplizierten fremdsprachigen Vorbilder Mayonnaise, Grizzlybär und Ketchup zu treten. Auch Joga, Nessessär und Wandalismus blieben unpopulär und landeten auf dem Rechtschreibschrottplatz.

Vielleicht war das unlängst eingeleitete Ende einer Reihe von eingedeutschten Fremdwörtern der letzte Triumph der Reformgegner. Denn weitere wichtige Regeln der reformierten Rechtschreibung werden wohl nicht mehr zurückgenommen. Zwanzig Jahre, nachdem die neuen Regeln am 1. August 1998 in Kraft traten, sind nur noch „wenig spektakuläre“ Änderungen zu erwarten, hat der Rat für deutsche Rechtschreibung erklärt. Die reformierten Regeln stehen. Und sie werden „insgesamt von den Schreibenden angenommen“, sagt Sabine Krome, die die Geschäftsstelle des Rats für deutsche Rechtschreibung vertritt. „Auch die Aufregung über die Rechtschreibreform hat sich weitgehend beruhigt.“

Der Duden, das "meistgehaßte Buch"

Wie schreibt man richtig? Der Kampf darüber erschütterte Deutschland jahrelang und erreichte schließlich sogar das Bundesverfassungsgericht. Dabei hatte der Wunsch nach einer Vereinfachung der Orthografie schon lange bestanden. Im Jahr 1901 war auf der „zweiten Orthographischen Konferenz“ in Berlin erstmals ein für alle Länder im deutschen Reich verbindliches Regelwerk beschlossen worden – ein Durchbruch. Grundlage war die preußische Schulnorm, die sich mit dem „Orthographischen Wörterbuch“ des Gymnasialdirektors Konrad Duden bereits durchgesetzt hatte. So wurde aus Chicane Schikane, aus Litteratur Literatur.

Doch bald werden die zahlreichen erlaubten Varianten (Brennnessel und Brennessel, morgens oder Morgens) immer weiter reduziert. Laien müssen linguistische Spitzfindigkeiten auswendig lernen: In bezug auf heißt es, aber mit Bezug auf. Auto fahren, aber radfahren. Der Duden ist „das in Deutschland wohl meistgehaßte Buch“, schreibt der "Spiegel" 1956.

Jahrzehntelang scheitern Vorstöße zur Reform an empörten Reaktionen der Öffentlichkeit. Umstritten ist besonders der Vorschlag von 1954, Substantive klein zu schreiben, wie es in anderen Sprachen üblich ist. Erst in den liberalen siebziger Jahren plädieren 53 Prozent der Bundesbürger dafür. Auch der damals reformfreudige Schriftstellerverband PEN – später ein wütender Reformgegner – fordert die Abschaffung der „reaktionären“ Substantivgroßschreibung. So weit gehen die Linguisten vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim aber nicht, die seit 1987 im Auftrag der Kultusminister ein neues Regelwerk erarbeiten. 1994 einigen sich die Fachwissenschaftler und Beamte auf ein Regelwerk. Am 1. Juli 1996 unterzeichnen die Kultusminister sowie Vertreter anderer deutschsprachiger Länder die Neuregelung.

Bei den Kommata gibt es großzügige Kann-Bestimmungen

Die Zahl der Regeln wird deutlich verkleinert. Bei den Kommata gibt es großzügige Kann-Bestimmungen. Substantivierte Adjektive oder Partizipien in festen Wortgruppen werden jetzt großgeschrieben: im Argen liegen, im Dunkeln tappen. Weit mehr als früher werden Wortverbindungen getrennt geschrieben, durchgängig etwa bei Ableitungen von -ig, -isch oder -lich: heilig sprechen, müßig gehen genau wie schon nach alter Regel ruhig bleiben, deutlich machen. Nur nach langem Vokal gibt es noch das ß , sonst ss. Zur Umsetzung der Reform wird eine Zwischenstaatliche Kommission ins Leben gerufen, die wie ihre Vorgängerin am Institut für deutsche Sprache in Mannheim angesiedelt ist.

Ein Sturm der Entrüstung bricht los. Die Reform sei ein „typisches Fossil des technokratischen Machbarkeitswahns der siebziger Jahre“, erklärt etwa Bundesaußenminister Klaus Kinkel und fordert von den Kultusministern: „Damit muss Schluss sein!“ In mehreren Bundesländern werden Rechtschreib-Volksbegehren initiiert, Professoren sammeln Unterschriften, es wird geklagt. Eltern sehen ihre Persönlichkeitsrechte und die ihrer Kinder verletzt. Eine Mehrheit im Bundestag spricht sich gegen die Reform aus – ein allerdings wirkungsloser Beschluss, denn zuständig sind die Kultusminister.

Im Juli 1998, kurz vor dem Inkrafttreten der Reform am 1. August, enttäuscht Karlsruhe die Hoffnung der Gegner und schmettert eine Verfassungsbeschwerde ab. Die Richter stellen fest, dass das Grundgesetz den Eltern das Erziehungsrecht einräumt. Dem stehe in der Schule jedoch der Erziehungsauftrag des Staates gleichrangig gegenüber. Wenige Tage nach dem Urteil geht aus einer Meinungsumfrage hervor, dass 84 Prozent der Deutschen die Reform ablehnen. Schriftsteller, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz und Martin Walser, rufen zum Boykott auf.

Günter Walraff beklagt "Schreib-Verhunzungen"

Zu diesem Zeitpunkt ist die Reform in den Schulen bereits Realität. Denn schon seit dem Herbst 1997 sind die neuen Regeln „zugelassen beziehungsweise empfohlen“. So schreiben im Sommer 1998 nach Angaben der Kultusministerkonferenz bereits mindestens 80 Prozent der Grundschüler in reformierter Schreibung. Punktabzug für „Altschreib“ soll es aber erst nach dem Ende der Übergangsfrist am 1. August 2005 geben.

Der Widerstand hält an. Die „FAZ“ kehrt im Sommer 2000 zur alten Rechtschreibung zurück, Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki sieht in der Reform „beinahe“ „eine nationale Katastrophe“, Günter Wallraff sagt, die kaum nachvollziehbaren „Schreib-Verhunzungen“ führten zu „Verunsicherung“.

Im Jahr 2001 sind allerdings bereits 80 Prozent aller neu erschienenen Bücher in der neuen Schreibung verfasst, wie die Zwischenstaatliche Kommission mitteilt. Selbst Stichproben in Leserbriefen von Privatpersonen hätten gezeigt, dass in 66 Prozent davon schon die reformierten Schreibweisen verwendet werden. Zeitungen würden sie sogar schon zu 96 Prozent richtig anwenden.

Ein neuer Beirat wird eingerichtet, der die Rechtschreibkommission begleiten soll. Im Auftrag der Kultusministerkonferenz soll er die neuen Regeln „unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität und der Akzeptanz in der Sprachgemeinschaft“ ausgiebig prüfen – eine Reaktion auf die Kritik, Praktiker aus Schule, Presse und Verlagen seien an der Reform nicht beteiligt gewesen. Ab 2004 ersetzt der neue Rechtschreibrat mit 41 Mitgliedern die Zwischenstaatliche Kommission.

Das bevorstehende Ende der Übergangsfrist lässt den Widerstand noch einmal anschwellen. Der „Spiegel“ und der Springerverlag kündigen an, zur alten Rechtschreibung zurückzukehren. Ihre Chefredakteure fordern „die Beendigung der staatlich verordneten Legasthenie“.

"Vieles ist einfacher geworden"

Bisweilen entblößen sich Reformkritiker jedoch selbst. So mokieren sie sich darüber, dass (jemanden) krank schreiben jetzt auseinandergeschrieben werden müsse, ganz so, als seien die Ärzte krank, wenn sie schreiben. Tatsächlich entstammt diese Schreibweise aber der vehement verteidigten alten Regelung. Erst die Reform ändert einleuchtend zu (jemanden) krankschreiben.

Im August 2006 wechseln Springer und die „FAZ“ wieder zu den neuen Regeln. Dabei löst eine umfängliche Reform der Reform zusätzliche Rechtschreibverwirrung aus: Nun heißt es etwa nicht mehr Leid tun, sondern leidtun (in alter Schreibung hieß es: leid tun). Doch der Großteil der Arbeit an der Reform ist bewältigt.

Und heute? „Vieles ist einfacher geworden, weil viele Ausnahmen abgeschafft wurden“, sagt Andrea Watermeyer, Verlagsleiterin Grundschule des Schulbuchverlags der Westermann Gruppe. Schüler müssten sich nun nicht mehr lauter Sonderregelungen und Ausnahmen merken. „Heute geht es vielmehr darum, Strukturen zu verstehen, Analogien zu erkennen und sich so die korrekte Schreibung selbst herleiten zu können.“

Trotz der Rechtschreibreform haben viele Schülerinnen und Schüler mit der Orthografie jedoch Schwierigkeiten. Bundesweit erreichen 22 Prozent der Viertklässler im Schultest nicht den Mindeststandard, wie aus dem IQB-Bildungstrend hervorgeht, in Berlin sind es sogar ein Drittel. Unter den Neuntklässlern verfehlen bundesweit 14 Prozent den Mindeststandard.

Genügend Zeit für die Rechtschreibung - bis zum Abitur

Die AG Schule im Rat für deutsche Rechtschreibung will sich die Ergebnisse des IQB-Tests genauer ansehen. „Wir wollen herausfinden, wo die Stolpersteine liegen“, sagt Gisela Beste, Vorsitzende der AG und Schulrätin in Brandenburg. Möglicherweise seien manche Regeln nicht klar formuliert und könnten noch besser systematisiert werden. Aktuell beobachtet die AG besonders die Kommasetzung, bei der Schüler oft Fehler machen – ob bloß aus Flüchtigkeit oder weil sie Schwierigkeiten mit den Regeln haben, müsse untersucht werden. Dass die Rechtschreibleistungen nicht allein von guten Regeln abhängen, hat der Rat allerdings bereits im Jahr 2013 deutlich gemacht. In seiner Stellungnahme zum Rechtschreibunterricht empfahl er genügend Lernzeit für die Rechtschreibung – und zwar bis zum Abitur.

Auch viele erwachsene Schreiber haben in manchen Bereichen der Getrennt- und Zusammenschreibung sowie der Groß- und Kleinschreibung noch Probleme, wie der Rat anhand der großen Textkorpora zur Gegenwartssprache feststellt. Dabei spielen grammatisch-semantische Grenzfälle von Wörtern und Wendungen häufig eine Rolle. So heißt es Schlange stehen, aber eislaufen, denn nur wenn der erste Bestandteil der Zusammensetzung ein nicht verblasstes Substantiv ist, schreibt man getrennt. Solche Grenzfälle will der Rat prüfen und gegebenenfalls langfristig weitere Varianten zulassen.

Neue Aufgaben ergeben sich für den Rat auch durch die Digitalisierung: Wo etwa setzt man nach einem Emoticon, also etwa einem in den Text eingefügten Smiley, das Komma richtig – davor oder danach? Für neue Rechtschreibaufregung ist ebenfalls gesorgt: Im November will der Rat Vorschläge zur geschlechtergerechten Schreibung machen. Anders als die große Rechtschreibreform vor zwanzig Jahren dürfte es das Gendersternchen aber wohl nicht bis vor das Bundesverfassungsgericht schaffen.

Das aktuelle Regelwerk im Internet: www.rechtschreibrat.com

Haben Sie Lust, jemanden kennenzulernen, der Fragen ganz anders beantwortet als Sie? Dann machen Sie mit bei "Deutschland spricht”. Mehr Infos zu der Aktion auch hier:

Zur Startseite