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Eine Frau hält den Kopf eines erschlagenen Mannes im Arm, eine andere Frau trauert mit ihr.

© Repro: Stefan B. Kirmse

Antisemitismus im Zarenreich: Von der Anfeindung zum Pogrom

Die russische Revolution von 1905 lehrt viel über politische Radikalisierung und die Rolle, die Minderheiten, Polizei und Justiz dabei spielen. Ein Gastbeitrag.

Am 18. Oktober 1905 geschah in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, genau das, was sich parallel in vielen anderen Teilen des Zarenreiches abspielte. Monatelange Proteste gegen Zar und Autokratie, an denen neben den unzufriedenen Massen auch Adlige teilnahmen, waren den Ereignissen vorausgegangen.

Die Regierung hatte die Demonstrationen weitgehend gewähren lassen, nachdem die gewaltsame Niederschlagung am „Blutsonntag“ in St. Petersburg die revolutionäre Stimmung nur weiter angeheizt hatte. Nach langem Hin und Her ließ Zar Nikolaus II. im Oktobermanifest schließlich ein Parlament mit gesetzgebender Gewalt zu und räumte den Menschen im Land erstmals Bürgerrechte ein.

Doch nur wenigen war zum Feiern zumute. Revolutionären Bewegungen ging das alles nicht weit genug; der Zarismus selbst war das Problem. Auch viele Liberale trauten den Ankündigungen nicht und hielten an der Allianz mit sozialistischen Kräften fest. Rechts-nationale Gruppierungen wiederum machten die jüdische Bevölkerung für das Chaos im Reich verantwortlich.

Gewaltsame Begleitumstände

Sie betonten, das Manifest habe „den Juden die Freiheit gegeben“, obwohl über 1500 diskriminierende Gesetze fortbestanden. Es überrascht kaum, dass antisemitische Pogrome bald den Süden und Westen erschütterten. Allein in der Woche nach der Proklamation des Manifests kam es hier zu 690 einzelnen Pogromen.

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Über die russische Revolution von 1905 und ihre oft gewaltsamen Begleitumstände sprechen wir wenig. Das ist bedauerlich, denn sie lehrt uns viel über politische Radikalisierung und die Rolle, die Minderheiten, Polizei und Justiz dabei spielen können.

Die Einschätzung der Obrigkeiten auf der Krim, dass das Manifest des Zaren zu einem „Volksfest mit Freudengesang“ führen werde, war zynisch. Der Tag sollte 48 Menschenleben kosten, davon 45 jüdische. Im Vergleich war dies ein Pogrom mittlerer Größe. Am späten Vormittag hatte sich eine große Menge auf dem Boulevard versammelt.

Die Polizei stachelte russische Tagelöhner an

Es kamen, wie der Gerichtsprozess gegen die Urheber des Pogroms feststellte, vor allem Juden und Studenten – nicht, um das Manifest zu feiern, sondern um mit roten Fahnen und Rufen wie „Nieder mit der Autokratie!“ ihre Unzufriedenheit zu artikulieren.

Während in anderen Städten monarchistisch-nationalistische Verbände diese Proteste mit Gegendemonstrationen quittierten, waren rechte Gruppierungen auf der Krim kaum organisiert. So war es die Polizei, die russische Tagelöhner anstachelte, mit Fahnen und Porträts des Zaren zu marschieren und, so das Gerichtprotokoll, „nicht zu warten, bis die Juden das Zarenreich vollständig in Besitz genommen haben“.

[Der Autor ist Senior Research Fellow am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO). Am heutigen Dienstag von 18 bis 19.30 Uhr stellt er sein Buch „The Lawful Empire. Legal Change and Cultural Diversity in Late Tsarist Russia“ (Cambridge 2019) in einer Zoom-Veranstaltung vor. Zur Anmeldung geht es hier]

Wer genau den ersten Schuss abgab, als die Gegendemonstration den Boulevard erreichte, wurde nie geklärt. In jedem Falle schlugen die Gegendemonstranten mit Keulen und Säbeln bald wahllos auf all jene Unbewaffneten ein, die ihnen jüdisch erschienen.

Die Frau des Pogromopfers Kalman Rochlin beschrieb, wie sie auf der Polizeiwache einen Offizier um Hilfe gebeten hatte: „Er rief nur: ‚Gebt ihr ihre Freiheit!’ Dann schlug mir jemand auf den Kopf und ich wurde in eine Zelle gesperrt. Dann kam (ein anderer) Polizist rein und begann mir in den Magen zu treten, wobei er immer wieder ‚Freiheit!’ rief. (…).“

Fliehenden bewusst den Weg versperrt

Polizeigewalt war bei der Verhandlung, bei der Hunderte von Zeugen vernommen wurden, das zentrale Thema. Viele bestätigten, dass Polizisten nicht nur Hilfe verweigert, sondern Fliehenden bewusst den Weg versperrt und sie dann selbst erschlagen hätten. Der Gouverneur saß währenddessen im Kreise seiner Familie auf dem Balkon seines Amtssitzes und beobachtete das blutige Treiben interessiert.

Ein Porträtbild des russischen Zaren Nikolaus II.
Der russische Zar Nikolaus II.

© imago/ITAR-TASS

Bei dem Pogrom in Odessa, das sich fast zeitgleich ereignete, rückten Polizei und Militär gar mit Artillerie gegen die vermeintlich revolutionäre und jüdisch dominierte Universität vor. Die liberale Zeitung „Retsch“ (Rede) zitierte den Oberkommandeur zur Haltung seiner Sicherheitskräfte gar mit dem Satz: „Alle von uns sympathisieren innerlich mit dem Pogrom.“ Im gerade verlorenen Krieg gegen Japan war der jüdischen Bevölkerung mangelnder Patriotismus vorgeworfen worden, zudem Unterstützung für Sozialismus und Anarchismus. Wirtschaftliche Probleme und Massenarbeitslosigkeit, die der Krieg verschärft hatte, taten ihr Übriges.

[Lesen Sie auch unseren Bericht über Pogrome in der Zeit der Russischen Revolution von 1918: Juden als Feindbild für alle]

Nun gab es auch liberale und revolutionäre Stimmen, die russischen Nationalismus anprangerten und die Gleichstellung von ethnischen und religiösen Minderheiten forderten. Gerade Juristen galten als liberal, was auch der Prozess in Simferopol unterstrich. Zwar fuhr der rechtsnationalistische „Bund des russischen Volkes“ einen konservativen Staranwalt aus St. Petersburg auf, um die Polizisten zu verteidigen.

Selbstbewusster Rechtsstaat

Doch wieder und wieder wurde der Anwalt vom vorsitzenden Richter zurechtgewiesen, seine krude Argumentation verspottet und dem Gelächter des Saalpublikums preisgegeben. Das Urteil sprach schließlich mehrjährige Haftstrafen gegen etliche Polizisten aus. Ein Beleg für die jüngere Erkenntnis, dass der russische Rechtsstaat ab Mitte des 19. Jahrhunderts überraschend selbstbewusst auftrat.

Und doch zeigt der Prozess auch, dass spätestens 1905 die Justiz auch leicht untergraben werden konnte. War der Staatsanwalt zunächst auffällig schweigsam, entschied er sich in seinem Schlussplädoyer für eine erstaunliche Täter-Opfer Umkehr: „Die Demonstranten hätten wissen müssen, dass die roten Fahnen auf Widerstand treffen würden!“

Dies war nur ein Vorgeschmack dessen, was sich das Justizministerium sechs Jahre später im bekannten Prozess gegen den jüdischen Fabrikangestellten Mendel Beilis in Kiew leisten sollte: Um die nationalistische Presse und Duma-Fraktionen zufriedenzustellen, ließ es den Fall nicht als Mord, sondern als vermeintlich jüdisches Ritual zur Schändung christlichen Kinderblutes untersuchen.

Die meisten Verurteilten aber wurden begnadigt

Zu einer Verurteilung kam es aus Mangel an Beweisen nicht, doch kalkuliert eingesetzte pseudowissenschaftliche Experten brachten die Geschworenen dazu, die Anklage eines jüdischen Ritualmords (mit unbekanntem Täter) gelten zu lassen. Gleich am nächsten Tag konnte so die antisemitische Zeitung „Doppelköpfiger Adler“ titeln: „Ein Jude freigesprochen. Alle Juden für schuldig befunden.“

Ein Buchcover, auf dem historische Dokumente in kyrillischer Schrift und eine Darstellung der Justizia zu sehen sind.
Cover des Buchs von Stefan B. Kirmse "The Lawful Empire".

© Promo

Auf der Krim hatte der wachsende Einfluss nationalistischer Kreise 1905 dazu geführt, dass die Verurteilten innerhalb von drei Wochen begnadigt wurden. Einer der Polizeioffiziere hatte sich in der Zwischenzeit in seiner Zelle erhängt. Die liberale Justiz war in Anbetracht der antisemitischen Sympathien aus Regierung und Sicherheitsapparat zu einem zahnlosen Tiger geworden.

Das Muster war dabei in fast allen Pogromprozessen gleich. Zwar wurde eine Vielzahl von Beamten zunächst schuldig gesprochen. Doch die meisten dieser Schuldsprüche blieben Makulatur, da der „Bund des russischen Volkes“ mit seinen Begnadigungsgesuchen stets erfolgreich war.

Antisemitismus und Rassismus, gepaart mit großrussischem Nationalismus, waren im Vierteljahrhundert vor 1905 immer stärker geworden und manifestierten sich in der Presse sowie in Angriffen und Demonstrationen auf der Straße. Dass diese aggressive Rhetorik spätestens ab den 1880er Jahren auch von Zar und Regierung selbst verbreitet und in zunehmend diskriminierender Gesetzgebung umgesetzt wurde, machte sie schnell gesellschaftsfähig.

Aus einzelnen Anfeindungen gegen Juden, Muslime und andere Minderheiten entstand ein breites, wenn auch meist latentes Phänomen, das sich punktuell in pogromähnlichen Vorfällen entlud. In den chaotischen Oktobertagen von 1905 fielen dann die letzten Hemmungen.

Die monatelange Staatskrise, verbunden mit massiver nationalistischer Agitation, machte es den Repräsentanten des Staates leicht, selbst zu Tätern zu werden. Dank der schützenden Hand von oben brauchten sie sich nicht einmal mehr vor Strafe zu fürchten.

Was die Geschehnisse von 1905 interessant und besorgniserregend zugleich macht, ist die Tatsache, dass sie das Ergebnis eines längeren Prozesses waren, der auch im 21. Jahrhundert aufhorchen lässt. Er kann sich jederzeit wiederholen.

Stefan B. Kirmse

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