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Ein Gemälde zeit Ludwig van Beethoven beim Komponieren.

© Heritage Images / Fine Art Image / akg-images

Exklusiv

Überraschende Entdeckung: Beethoven war nicht komplett taub

Zur Legende Ludwig van Beethovens gehört, dass er Meisterwerke produzierte, ohne sie hören zu können. Seine Konversationshefte beweisen offenbar das Gegenteil.

Was weiß jemand, der nicht gerade Musikliebhaber ist, eigentlich über Ludwig van Beethoven? Oft nicht mehr, als dass der das Ding mit dem „Tatatatahhh!“ am Anfang und die „Ode an die Freude“ geschrieben hat. Und fast jede und jeder weiß auch, dass der große Musiker lange Jahre komplett taub war, aber trotzdem genial weiter komponierte.

Letzteres allerdings ist, wenn man dem Musikwissenschaftler Theodore Albrecht von der Kent State University in Ohio, USA, glaubt, eine Legende, die ausgerechnet im Jahr seines 250. Geburtstags widerlegt werden kann. Und der Nachweis dafür findet sich gerade in den Gegenständen, die lange als Nachweis schlechthin für des großen Musikers komplette Gehörlosigkeit galten: in Beethovens „Konversationsheften“. Denn diese waren eben die wichtigsten Hilfsmittel des Komponisten, um sich mit anderen überhaupt "unterhalten" zu können.

Albrecht hatte es sich vor knapp 15 Jahren zur Aufgabe gemacht, diese endlich einmal ins Englische zu übersetzen, und deren Inhalt dann auch etwas zu ordnen und zu kommentieren. Eine Riesenaufgabe, an die er sich 2007 machte.

Dafür musste er diese Hefte sehr genau - und aufmerksam - lesen. Deutsche Beethoven-Forscher haben letzteres offenbar bisher nicht getan. Sonst wäre ihnen sicher auch aufgefallen, was Albrecht jetzt auffiel. Historische Belege für das immer schlechter werdende Gehör des Komponisten gibt es seit 1798. Ab 1816 existieren Nachweise dafür, dass Beethoven begonnen hatte, Teile seiner Gespräche mit Besuchern handschriftlich zu führen.

Ein Porträtbild von Theodore Albrecht.
Theodore Albrecht, Musikwissenschaftler an der Kent State University in Ohio, USA.

© Promo

Immer ein Heft dabei

Ein Heft trug er etwa ab seinem 48. Lebensjahr (1818) annähernd immer bei sich. Und er benutzte die Hefte, wenn Besuch da war, auch zu Hause. Auf den leeren Seiten dieser Notizbücher schrieben Gesprächspartner des Komponisten dann auf, was sie ihm sagen, was sie ihn fragen wollten. Beethoven antwortete dann meist in gesprochenen Worten.

So gilt das Jahr 1818 allgemein als das, in dem Beethoven sein Gehör mehr oder minder endgültig verloren hatte, also praktisch vollständig taub geworden war. Diese Hefte sind insgesamt ein Quell von Informationen über das Leben des Komponisten, den es so für keine andere historische Person gibt. Denn wer bewahrt schon schriftlich fast jedes Gespräch, das er oder sie führt, in Teilen niedergeschrieben auf?

Die Hefte waren sogar offenbar so voller persönlicher Information, dass Beethovens zeitweiser Privatsekretär Anton Schindler sich nach dem Tode des Meisters verpflichtet sah, in vielen davon selbst fälschend etwas zu ergänzen, und viele ganz verschwinden zu lassen. Von den wahrscheinlich etwa 400 Exemplaren sind 139 erhalten. Die meisten davon liegen in der Berliner Staatsbibliothek, zwei im Bonner Beethoven-Haus.

„…mein linkes Ohr so ziemlich erhalten“

„Im Jahr 2010 übersetzte ich Heft 28, das im April 1823 vollgeschrieben wurde“, sagt Albrecht dem Tagesspiegel. Dort dokumentiert sei, neben vielem anderen, auch eine Zufallsbekanntschaft mit jemandem, der ebenfalls Gehörprobleme hatte. Beethoven antworte diesem Manne also notgedrungen diesmal nicht mit gesprochenen Worten, sondern schrieb ausnahmsweise selbst etwas in das Heft. Er erteilt dort unter anderem den Rat, mit Hörrohren vorsichtig zu sein.

[Anmerkung der Redaktion: Nach dem Hinweis einer Leserin haben wir im vorstehenden Satz den zunächst verwendeten, missverständlichen Begriff Ohrtrompeten gegen Hörrohre ausgetauscht.]

Diese akustischen Verstärker machten laut Beethoven alles nur noch schlimmer: „Durch deren Enthaltung habe ich mein linkes Ohr so ziemlich erhalten“, steht in Heft 28 in der Handschrift des Komponisten auf Blatt 41 und 42.Albrecht las nicht einfach über diese vermeintlich unbedeutende Stelle, in der nur ein unbekannter Zeitgenosse mit dem Meister „sprach“, hinweg, wie offenbar viele vor ihm. Sondern er erkannte ihre Bedeutung.

Ab jetzt war er aufmerksam und fand danach bislang insgesamt 23 Hinweise darauf, dass Beethoven zumindest bis kurz vor seinem Tode zwar stark schwerhörig war, aber nicht, wie es von ihm immer heißt „komplett taub“.

Ein Schrei, dann Freude

Zu den Stellen in den Konversationsheften kämen, sagt Albrecht, andere Dokumente. So habe der englische Dirigent Sir George Smart, der Beethoven im September 1825 in Wien aufsuchte, in seinem Tagebuch vermerkt, der Meister könne noch immer ein wenig hören, wenn man laut nahe seinem linken Ohr etwas rufe („If you halloo quite close to his left ear“).

Und von dem Arzt Gerhard von Breuning existiert eine Aufzeichnung, zu datieren wahrscheinlich etwa ein Jahr vor Beethovens Tod. Dort heißt es, eine seiner kleinen Schwestern habe bei Tische einmal einen Schrei ausgestoßen. Den gehört zu haben „machte ihn (Beethoven) so glücklich, dass er hell und freudig auflachte.“

[Welche Spuren Beethoven in Berlin hinterließ, das er 1796 besuchte, lesen Sie hier.]

All diese Belege vereint Theodore Albrecht in einem in Kürze erscheinenden Fachartikel, der als Manuskript dem Tagesspiegel vorliegt. Er wird seine Ergebnisse auch auf der am Montag beginnenden Konferenz „Beethoven-Perspektiven“ in Bonn präsentieren.

Warum erst jetzt, und von einem Amerikaner?

Tatsächlich hätte die Tatsache, dass Beethoven in all den Jahren, in denen er bislang als „komplett taub“ galt, eben doch nicht komplett taub war, jede Menge Implikationen. Sie würde beispielsweise zumindest in Teilen plausibel machen, wie Beethoven fast bis zum Ende seines Lebens in der Lage war, Kompositionen höchster Qualität hervorzubringen, etwa seine 9. Sinfonie 1824 - und diese teilweise auch noch selbst zu dirigieren.

Das Faksimile der Partitur der neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven.
Das Faksimile der Partitur der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Das Original wird in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt.

© Marcel Mettelsiefen/dpa

Vor allem letzteres ist sonst kaum erklärbar. Es würde die Legende des mit gleichsam übernatürlichen Fähigkeiten ausgestatteten Genius, der gegen alle Wissenschaft zu so etwas in der Lage war, im Jahr seines 250. Geburtstages zumindest ein wenig relativieren. Sie stamme, sagt Albrecht, ohnehin "von Leuten, die ihn nicht gut kannten, und die Umschreibungen wie "komplett taub" oder "stocktaub" verwendeten, weil sie ihn so wahrnahmen. 

Beethoven sei in seinem sozialen Leben zwar schwer eingeschränkt gewesen, meint Albrecht. Doch seine „eigentliche technische Kompositionsfähigkeit - für Klavier, Streichquartett oder Orchester und von Kontrafagott bis Piccolo - war nicht wesentlich beeinträchtigt."

Die Nachricht, dass Beethoven in all den Jahren offenbar doch noch zumindest ein wenig hören konnte, dürfte sich jedenfalls als ein ziemliches „Tatatatahhh“ innerhalb der Musikwissenschaft erweisen. Und dass sie ausgerechnet aus Ohio und nicht etwa aus Wien, Bonn oder Berlin kommt, zieht natürlich eine Frage nach sich: Wie peinlich ist es für die ganze Regal-Wände füllende deutsche und deutschsprachige Beethoven-Forschung, auf diesen entscheidenden Unterschied zwischen dem „total tauben“ legendären und dem nur „sehr schwerhörigen“ realen Ludwig van Beethoven nicht selbst gestoßen zu sein?

Albrecht selbst gibt sich diplomatisch: „Viele Beethoven-Gelehrte konzentrieren sich auf analytische Arbeiten, weniger auf das Biographische.“ Jeder arbeite eben an bestimmten Projekten und auf bestimmten Teilgebieten, und „so gut er oder sie es kann“.

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