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"Bildwissenschaft" statt Kunstgeschichte: Gespenstergeschichte für Erwachsene

Vater der modernen Ikonologie: Der „Psychohistoriker“ Aby Warburg hat die Deutung von Bildern revolutioniert. Seine gesammelten Werke erscheinen jetzt in einem Band.

In dem berühmten Text von Aby Warburg zum „Schlangenritual“ über des Verfassers „Indianische Reise“ nach Neu-Mexiko findet sich ein erstaunlicher Satz: „Ein paar tausend jüdische Offiziere mehr und wir hätten vielleicht die Schlacht an der Marne gewonnen.“ In diesem Satz aus dem Frühjahr 1923 bündelt sich die ganze Tragik seines Autors. Aby Warburg (1866-1929), Sohn einer wohlhabenden Hamburger Bankiersfamilie, war Jude und deutscher Patriot zugleich. Er selbst bezeichnete sich als „Hamburger im Herzen, Jude von Geburt, Florentiner im Geiste“. Die Niederlage im Krieg hat er, wie so viele seiner Zeitgenossen, nicht verkraftet. Eine psychische Erkrankung zwang ihn nach Kriegsende für fünfeinhalb Jahre in Sanatorien, aus denen er erst 1924 „zur Normalität beurlaubt wurde“, wie er selbstironisch anmerkte.

„Normal“ aber war Warburg nun gerade nicht. Als Kunsthistoriker bewegte er sich auf neuem Gelände, irrlichternd zwischen den etablierten Disziplinen bis hin zu Psychologie und Biologie. Er wurde zum Begründer eines neuen Wissenschaftszweiges, der Ikonologie als Deutung der symbolischen Formen von Bildern gleich welcher Art. Er hat den Begriff erstmals 1912 benutzt, doch sprach er am Ende seines Lebens von sich als „Psychohistoriker“, der eine umfassende Kulturgeschichte zu begründen suchte.

Der Name Aby Warburg ist in den Kulturwissenschaften längst inflationär gebräuchlich. Seine Schriften hingegen sind noch immer wenig bekannt. Zu Lebzeiten gab es von ihm nur drei schmale Bücher. Den Großteil seines Oeuvres hingegen bilden Vorträge, Notizblätter, vielfach korrigierte Versionen. Allein schon deshalb bedeutet es einen Meilenstein, dass nun mit der von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung erarbeiteten Ausgabe der „Werke in einem Band“ ein Korpus von 25 textkritisch edierten Schriften zur Verfügung steht. Der Band ist geeignet, solide Kenntnisse an die Stelle der bislang meist raunenden Erwähnung des Namens Warburg zu setzen und seine Forschungsanliegen unverstellt in den Blick zu rücken. „Wir wollten Warburgs Texte ohne die Bearbeitungen durch fremde Hand lesbar machen“, sagt Sigrid Weigel.

Mit dem iconic turn, der Hinwendung zu einer allgemeinen Bildwissenschaft anstelle der herkömmlichen Kunstgeschichte, hat sich das Interesse in neuer Weise auf Aby Warburg fokussiert. Sein Vorhaben gebliebener „Bilderatlas“, dem er den Namen Mnemosyne nach der Göttin der Erinnerung gegeben hatte, versammelt genau das, was die Bildwissenschaft interessiert: visuelle Beispiele verschiedener Zeiten und Gattungen, die motivische Ähnlichkeiten aufweisen. Warburg sammelte Bilddokumente bis hin zu Briefmarken und Zeitungsausschnitten. Die im Bildteil des Sammelbandes gezeigten originalen 179 Illustrationen seien ein Novum, sagt Weigel. In früheren Publikationen waren sie kaum erkennbar, weil es sich um Reproduktionen von Reproduktionen der Mnemosyne-Tafeln handelte.

Es ging ihm jedoch vom Anfang seiner Arbeit an um das „Nachleben der Antike“. Warburgs Dissertation von 1891 über die Hauptwerke Sandro Botticellis, „Frühling“ und „Geburt der Venus“, sollte ihrem Untertitel gemäß gelesen werden: „Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance“. Mithin als Studie über einen der Anfangsmomente der Renaissance, die Wiederaufnahme der römischen Literatur und ihre Verwandlung in Malerei. Schon damals interessierte es Warburg, versteckte Bildmotive aufzudecken, die sich aus antiken Vorbildern über die Zeiten hinweg bis in Botticellis Formenvorrat hinein erhalten hatten.

Doch ging es immer weniger um eine teleologische Entwicklungsgeschichte, als deren Ziel strahlend die Florentiner Hochrenaissance erscheint. Die Nachtseiten der Antike, wie Astrologie und Kosmologie, rücken in eine gleichberechtigte Rolle. „Die ,olympische’ Seite der Antike musste ja erst der althergebrachten ,dämonischen’ abgerungen werden; denn als kosmische Dämonen gehörten die antiken Götter ununterbrochen seit dem Ausgang des Altertums zu den religiösen Mächten des christlichen Europa“, schrieb er 1920. Also keine bloße Renaissance, sondern ein Nebeneinander von neuhumanistischen und mittelalterlich-dämonischen Vorstellungen.

Warburg musste dazu an verschüttete, tiefere Schichten gelangen. Er betrachtete Bilder, gleich ob es sich um Gemälde oder populäre Drucke der Lutherzeit handelte, als Palimpseste, als überschriebene, nun jedoch von ihrer Zeitlichkeit verschmutzte Bedeutungsträger, deren Sinnschichten es zu entschlüsseln galt. Nur so gelang es, jenem geheimnisvollen „Nachleben“ auf die Spur zu kommen, das oft genug ein Weiterleben bedeutet, ja fallweise auch ein Wiederauftauchen nach Jahrhunderten des Verdämmerns. Warburg sprach verrätselnd von einer „Gespenstergeschichte für ganz Erwachsene“.

Aby Warburg ging mehr als skrupulös mit seinen Texten um. Seine unbestrittene Lebensleistung ist die – mit den reichen Mitteln seiner Familie geschaffene – „Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg“ in Hamburg, die mit ihren 65 000 Bänden Ende 1933 nach London gerettet werden konnte, wo sie seither beheimatet ist. Das Hamburger Bibliotheksgebäude bildete einen „Denkraum“, wie einer von Warburgs vielen Wortschöpfungen lautete, einen Freiraum der geistigen Entdeckungsreisen. Die Bibliothek nach Hamburg zurückzuholen, wie es derzeit in der Diskussion ist, als einzigartiges Dokument deutsch-jüdischen Geisteslebens vor 1933, wäre aller Anstrengungen wert.

Warburg blieb nicht bei der Renaissance stehen. Er macht sie für weitere Untersuchungen fruchtbar. Sein nun vollständig vorliegender Aufsatz über Edouard Manets Gemälde „Frühstück im Grünen“ belegt, dass die Neuartigkeit dieses Malers gerade nicht auf Voraussetzungslosigkeit beruht. Warburg betont, „dass Teilhabe am geistigen Gesamterbgut erst die Möglichkeit schafft, einen neue Ausdruckswerte schaffenden Stil zu finden, weil diese ihre Durchschlagskraft nicht aus der Beseitigung alter Formen, sondern aus der Nuance ihrer Umgestaltung schöpfen“. Und so ist denn auch Manets Gemälde ein modernes Belegstück „zum Problem der überlebenden Kraft antikisierender Vorstellungen“ – antike Bildwelt in zeitgenössischem Kleid.

Der Aufsatz sollte das Schlussstück werden im „Bilderatlas Mnemosyne“, dessen Bildtafeln 1933 verloren gingen und nur in Fotografien dokumentiert sind. So blieb der Atlas Stückwerk, gerade so wie das schriftliche Oeuvre. Mit der Werkausgabe bietet sich die Chance für Neugierige, mit Warburgs faszinierenden Denkausflügen bekannt zu werden.

Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig (Hrsg.): Aby Warburg. Werke in einem Band. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 913 Seiten, 68 Euro.

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