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Großstadt-Geräusche: Der Lärm der anderen

"Der eigene Hund macht keinen Lärm, er bellt nur", sagt Tucholsky. Aber in der Großstadt ist der Mensch von anderen Menschen umgeben, von ihren Hunden, Autos, Flugzeugen. Wann werden Geräusche zur Gefahr für die Gesundheit?

Lärm bedeutet Krieg, das zeigt schon die Sprachgeschichte. Das frühneuhochdeutsche Verb „lerman“ entstand aus dem Wort „Alarm“, dessen unbetontes Anfangs-A eines Tages wegfiel. Alarm wiederum kommt aus dem italienischen „all'arme“, zu den Waffen.

Tatsächlich wird in modernen Großstädten erbittert um das Thema „Lärm“ gekämpft. „Das ist ja das Spezifikum des menschlichen Ohres: Man kann es nicht schließen wie die Augen“, sagt der Berliner HNO-Arzt Hans Behrbohm. Denn: Die Augen kann man schließen, die Ohren bleiben auf Empfang. Was uns aufschreckt, sind dabei vor allem die fremden, ungewohnten Geräusche. „Der eigene Hund macht keinen Lärm, er bellt nur“, bemerkte Kurt Tucholsky. „Lärm ist das Geräusch der anderen.“ In der Großstadt gibt es viele dieser anderen.

Schon im 19. Jahrhundert, in dem die Städte explosionsartig wuchsen, überflügelten die Geräusche die allgegenwärtigen Gerüche in der Hitliste der Belästigungen des Großstadtlebens. So warnte etwa der Arzt Wilhelm Stekel vor den Geräuschen der Straßenbahn: „Tief in die Stunden des Schlafs hinein tönt der Lärm fort. Das Rasseln der Wagen, das Sausen und Stöhnen der Elektrischen, sie beschäftigen unser Gehirn auch im Schlaf.“

Der Wiener Historiker und Stadtforscher Peter Payer ist der anschwellenden Geräuschkulisse und der bürgerlichen Kulturkritik des Lärms wissenschaftlich nachgegangen. Der Kulturphilosoph Theodor Lessing verfasste etwa im Jahr 1908 eine „Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“ und gründete gleich noch einen „Antilärmverein“, der von Hannover aus schnell Berlin, Wien und München eroberte. Dessen Mitgliederzeitschrift trug den schönen Titel „Der Antirüpel. Das Recht auf Stille.“

Praktisch zeitgleich begann in Berlin der Apotheker Maximilian Negwer in seiner Schöneberger „Fabrik pharmazeutischer und kosmetischer Spezialitäten“ mit der Produktion von kleinen, formbaren Wachs-Watte-Kügelchen, die man sich in die Ohren stecken konnte, um sich gegen unliebsame Geräusche abzuschotten – so wie weiland Odysseus seine Reisegefährten gegen den verführerischen Gesang der Sirenen geschützt hatte: Das weltweit erfolgreiche Lärmschutz-Markenprodukt Ohropax war geboren.

Wie Lärmschutz heute funktioniert

Und heute? Heute gibt es Lärmschutzwall und Doppelverglasung, wird in der S-Bahn darauf hingewiesen, man möge mit dem MP3-Player doch nur die eigenen Ohren beschallen und in zahlreichen Städten über Flughafenerweiterung und Nachtflugverbot diskutiert. Trotzdem bleibt Lärm ein Problem. Es trifft nicht zuletzt Musiker. Denn auch Geräusche, die im Gehirn als Bach, Beethoven oder Beatles identifiziert werden, können das menschliche Gehör gefährden. Die Lärmschwerhörigkeit ist mit rund 5500 Fällen jedes Jahr die häufigste anerkannte Berufskrankheit. Und das, obwohl die Lärm- und Vibrationsschutzverordnung Arbeitgebern vorschreibt, ab 80 Dezibel Gehörschutz bereitzustellen.

Korrekt sollte die Maßeinheit eigentlich „deci-Bell“ heißen, was in der Abkürzung „dB“ erkennbar bleibt. Denn in die Welt gesetzt hat sie Alexander Graham Bell, der Erfinder des Telefons. Während „Phon“ die Lautstärke bezeichnet, ist Dezibel die Maßeinheit für den Schalldruckpegel. Da unser Gehör Töne unterschiedlicher Frequenz als verschieden laut empfindet, werden die Schallsignale heute in Messgeräten so gefiltert, dass die Eigenschaften des menschlichen Gehörs nachgeahmt werden. Man spricht dann von einer sogenannten A-Bewertung, kurz dB(A). Null dB(A) entsprechen der Hörschwelle, zwischen 120 und 140 dB(A) liegt die Schmerzgrenze.(s. Grafik)

Nüchtern betrachtet sind Geräusche Schallwellen, die von Klangkörpern in Form von Druckwellen abgestrahlt werden und über das elastische Medium der Luft das menschliche Hörorgan erreichen. Zum physikalischen Reiz kommt das individuelle emotionale Erlebnis – das nicht aufs Ohr, aber möglicherweise auf andere Organe schlägt. Inzwischen sind diese „extraauralen“ Wirkungen des Lärms verstärkt in den Blick von Medizinern gerückt: Stressreaktionen, Schlafstörungen und, als langfristige Folge, womöglich Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems. Daten des Umweltbundesamtes (Uba) aus dem Jahr 2004 zeigen, dass sich heute 60 Prozent der Bürger von Verkehrslärm, 43 Prozent von lauten Geräuschen aus der Nachbarschaft gestört fühlen. An dritter Stelle folgt mit 32 Prozent der Fluglärm.

Inzwischen häufen sich die Studien, die einen Zusammenhang zwischen Lärm und ernsten Erkrankungen nahelegen. So zeigte 2005 die Lares-Studie: In acht europäischen Städten haben Bewohner, die sich durch Fluglärm gestört fühlen, überdurchschnittlich häufig hohen Blutdruck und Beschwerden an Herz und Herzkranzgefäßen. Der Spandauer Gesundheitssurvey, den Christian Matschke vom Robert-Koch-Institut zur Frage nach Lärmstress nutzte, zeigt einen Zusammenhang zwischen Dauerbeschallung über 55 Dezibel und erhöhtem Risiko für Bluthochdruck. Und in einer Metaanalyse zahlreicher Einzelstudien, die Wolfgang Babisch vom Uba im Jahr 2006 vorlegte, ist von 4000 Herzinfarkten die Rede, die in jedem Jahr in Deutschland allein auf Straßenverkehrslärm zurückgehen.

Lärm beeinflusst das Risiko für einen Herzinfarkt bei Männern

Den Zusammenhang zwischen Umweltlärm, Arbeitslärm und Herzinfarkten untersuchte die NaRoMI-Studie im Auftrag des Uba und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Dafür wurden 4 115 Patienten in Berliner Kliniken in einer Fall-Kontroll-Studie verglichen: Jedem Herzinfarktpatienten standen ein oder zwei Kontrollpatienten gegenüber, die wegen eines anderen Leidens in der Klinik waren. Während sich bei den Frauen kein Zusammenhang zwischen lauter Wohnung und Infarkt herstellen ließ, wohnten die an Herzinfarkt erkrankten Männer häufiger und schon für längere Zeit an lauten Straßen als die Vergleichspatienten. Darüber hinaus gab es eine klare „Dosis-Wirkungs-Beziehung“: Männer, vor deren Wohnhaus der Tagesmittelwert bei 65 Dezibel und darüber lag, hatten ein besonders hohes Infarktrisiko. Nur könnten sich Menschen, die in besonders lauter Umgebung wohnen, auch hinsichtlich anderer Merkmale von der Vergleichsgruppe unterscheiden – selbst wenn in einigen Untersuchungen versucht wurde, das auszuschließen.

Beim Uba, das kürzlich auch eine „Lärmfachliche Bewertung der Flugrouten für den Verkehrsflughafen Berlin-Brandenburg“ herausgegeben hat, betrachtet man Lärm inzwischen als „das am meisten unterschätzte Umweltthema“. Aber ist er wirklich ein Risikofaktor wie Übergewicht, Rauchen und mangelnde Bewegung? „Es gibt da wenige Untersuchungen, die wirklich seriös sind und selbst die stärksten Studien haben noch Schwächen“, sagt der Kardiologe Dietrich Andresen vom Vivantes-Klinikum in Berlin. So sei in einigen Studien nicht geklärt worden, ob die Fenster der Lärmgeplagten nachts geschlossen waren. Ein Zusammenhang zwischen Lärm und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sei aber plausibel. Denn bei Stress steigt der Blutdruck und das kann auf Dauer dazu führen, dass sich Gefäße verhärten und ihre Innenwand verändert. „Aber nicht alles, was plausibel ist, ist auch wahr“, warnt Andresen. Deswegen sei es wichtig, dass in diesem Bereich ganz strenge Maßstäbe angelegt und gute Forschung gemacht würde.

Genau das möchte Thomas Münzel, Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Uni Mainz, leisten. Er hat gesunden Freiwilligen MP-3-Player mitgegeben, von denen sie sich nachts im Bett das Geräusch startender und landender Flugzeuge anhören mussten. Vorher und nachher testeten die Kardiologen um Münzel verschiedene Laborwerte und die Funktion der Arterien mit hochempfindlichen neuen Methoden. „In ersten Auswertungen sehen wir selbst bei diesen gesunden Menschen Auswirkungen auf Hormone und Gefäße, zudem steigt der obere systolische Blutdruckwert der Probanden im Mittel um sechs bis sieben mmHg“, berichtet Münzel. In der Gutenberg-Gesundheitsstudie wollen er und seine Mitarbeiter die Beziehung zwischen Lärm und Herzinfarkt erstmals auch prospektiv über einen langen Zeitraum untersuchen. 17 000 Frauen und Männer aus Mainz und dem Landkreis Mainz-Bingen wurden dazu schon aufwendig untersucht und befragt, jeweils über fünf Stunden lang: EKG, Ultraschall des Herzens und der Halsschlagader, Untersuchung der Lungenfunktion, verschiedenste Laborwerte, Messungen der Gefäßfunktion, Fragebogen zur psychischen und beruflichen Belastung, zu Bewegung und Ernährung. Im Lauf der nächsten Jahre sollen weitere Tests folgen. Was die Lebensumstände der Teilnehmer betrifft, so wird der Lärm im Berufs- und Wohnumfeld minutiös erfragt. „Geokodierungen“ der Studienteilnehmer sollen helfen, das Ausmaß des Lärms am Wohnort und Gefäßschädigungen in Beziehung zu setzen.

Für Andresen spielt Lärm keine große Rolle. „Diabetes, Übergewicht, Rauchen, das sind wichtige Risikofaktoren“, sagt er. „Dagegen ist die Bedeutung der Lärmbelästigung wohl viel geringer.“ Die Frage nach der alltäglichen und allnächtlichen Lärmbelästigung gehört für Menzel indes schon heute zur kardiologischen Routine in der Brustschmerzsprechstunde. Der Frankfurter Flughafen ist schließlich nah. „Wir leben in einem maximal belästigten Raum“, sagt der Herzspezialist, der sich auch gegen die neue Landebahn engagiert.

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