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Bleibende Erinnerung. Touristen machen ein Selfie vor den Überbleibseln der Berliner Mauer.

© imago/Jochen Tack

Hirnforschung: Die Mitautoren unserer Erinnerung

Das Gedächtnis ist keine Festplatte, sondern höchst wandelbar. Andere beeinflussen, wie wir uns erinnern.

Unsere Erinnerung ist kein getreues Abbild der Vergangenheit. Vielmehr gleicht sie einer Geschichte, die wir immer wieder neu schreiben. Dabei sind wir allerdings häufig nicht die alleinigen Autoren. Wann immer wir nämlich mit anderen Menschen über Vergangenes sprechen, gleichen wir unbewusst unsere Gedächtnisinhalte einander an.

Selektives Vergessen

Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass nach einem Gespräch über ein vergangenes Ereignis die Erinnerungen der Gesprächspartner an dieses Ereignis stärker übereinstimmen als zuvor. Dies liegt unter anderem daran, dass wir normalerweise nur einige Aspekte einer Erinnerung zur Sprache bringen und diese dadurch im Gedächtnis verstärken. Jene Anteile hingegen, die wir nicht erwähnen, werden dadurch im Gedächtnis sogar aktiv geschwächt. Wir vergessen sie schneller als vergleichbare Fakten, die mit dem besprochenen Ereignis nichts zu tun haben. Wissenschaftler nennen das „abrufinduziertes Vergessen“.

Wenn Sie sich zum Beispiel über Ihren letzten Urlaub unterhalten und dabei über das schlechte Wetter sprechen, aber gleichzeitig das gute Essen unerwähnt lassen, dann werden Sie sich in Zukunft vor allem an das Wetter erinnern, während die Erinnerung an das Essen verblasst. Wenn wir wiederholt über ein Ereignis sprechen, kann sich die Erinnerung dadurch auf lange Sicht stark verändern. Das gilt nicht nur für persönliche Erlebnisse, sondern auch dafür, wie man sich an politisches und gesellschaftliches Geschehen erinnert. Diese kollektiven Erinnerungen beeinflussen wiederum, wie wir Entwicklungen bewerten und welche Entscheidungen wir treffen. Je nachdem, ob sich jemand beim Thema Flüchtlingskrise eher an Probleme oder Erfolgsgeschichten erinnert, wird derjenige wohl unterschiedliche Schlüsse ziehen.

Manipulierte Erinnerung

Noch gravierender ist die Tatsache, dass wir oft Beiträge anderer Menschen in unsere eigene Erinnerung einbauen. Dieses Phänomen konnte Fiona Gabbert mit einem Experiment an der Universität Aberdeen belegen, bei dem die Teilnehmer sich jeweils zu zweit über einen Filmausschnitt unterhalten sollten, den sie zuvor gesehen hatten. Was sie jedoch nicht wussten: beide hatten gar nicht denselben Filmausschnitt gesehen, sondern zwei unterschiedliche Versionen der gleichen Szene. Jede Version enthielt einige Details, die in der anderen fehlten.

Als die Teilnehmer sich das Video später noch einmal ins Gedächtnis rufen sollten, gaben mehr als zwei Drittel von ihnen auch solche Elemente zu Protokoll, die sie selbst gar nicht gesehen haben konnten. Sie hatten also Angaben ihres Gesprächspartners in ihre eigene Erinnerung übernommen. Aus diesem Grund sollten sich Zeugen einer Straftat möglichst nicht miteinander unterhalten, bevor sie ihre Aussage machen.

Im schlimmsten Fall kann die Erinnerungsverzerrung so weit gehen, dass wir unsere Erinnerung ins Gegenteil verkehren. Micah Edelson und Kollegen vom israelischen Weizmann-Institut zeigten Versuchspersonen in kleinen Gruppen einen Film, zu welchem sie nach ein paar Tagen einzeln Gedächtnisfragen beantworten mussten. Später sollten die Teilnehmer die Fragen erneut beantworten, diesmal sahen sie jedoch auch die Antworten ihrer Gruppenpartner. Diese stammten allerdings in Wirklichkeit von den Versuchsleitern und waren absichtlich falsch. Dennoch schlossen sich zwei Drittel der Probanden der Mehrheitsmeinung an und änderten ihre Antwort.

Verzerrtes Gruppen-Gedächtnis

Dieses Verhalten ist vernünftig, denn wenn die Mehrheit sich anders erinnert, liegt es nahe, dass man sich irrt. Das Gefährliche daran ist aber, dass wir solche Korrekturen mitunter für unsere eigene Erinnerung halten. Auch nachdem man die Teilnehmer über die Manipulation aufgeklärt hatte, blieben 40 Prozent bei den falschen Antworten, obwohl sie sich ursprünglich richtig erinnert hatten. So können sich Irrtümer ausbreiten, bei denen jeder überzeugt ist, dass es sich um seine eigene Erinnerung handelt.

Wie sich Erinnerungen innerhalb eines größeren Personenkreises einander angleichen, haben Forscher um Alin Coman von der Universität Princeton untersucht. In Zehnergruppen gaben sie Versuchspersonen Texte zu lesen, über die sich dann jeder dreimal mit jeweils einem anderen Gruppenmitglied unterhalten sollte. Gedächtnistests vorher und nachher ergaben, dass sich die Erinnerung aller Gruppenmitglieder durch die Gespräche einander angeglichen hatte.

Einige Gruppen hatten die Wissenschaftler allerdings so eingeteilt, dass die Teilnehmer überwiegend innerhalb von zwei Untergruppen miteinander sprachen. Das führte dazu, dass sich zwei verschiedene Versionen der Erinnerung herausbildeten, denn die Mitglieder derselben Untergruppe stimmten stärker darin überein, welche Punkte sie sich gemerkt und welche sie vergessen hatten. Praktisch bedeutet dies: Wenn Menschen in zwei Netzwerken über dieselbe Ausgangsinformation sprechen, dann entstehen mit der Zeit zwei unterschiedliche Narrative – ganz allein durch das Phänomen der Erinnerungsangleichung. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn sich die Gruppen in ihrer politischen Einstellung oder ihrer sozialen Zusammensetzung unterscheiden.

Facebook bläht die Informationsblasen auf

Auf Plattformen wie Facebook ist die Kommunikation nur schwer zu überschauen. Ein Nutzer schreibt etwas, 50 andere lesen es, zehn kommentieren, woraufhin andere antworten. Wie sich das auf unsere Erinnerungsbildung auswirkt, ist wenig erforscht.

Dank der digitalen Netzwerke teilen wir unsere Erfahrungen mit einem viel größeren Kreis von Personen als früher. Dennoch sind wir meist mit Menschen verbunden, die ähnliche Ansichten wie wir vertreten. Während wir es in vordigitalen Zeiten mit kleineren Netzwerken wie Freundeskreisen oder Arbeitskollegen zu tun hatten, scheinen heute also insgesamt weniger, dafür aber größere Netzwerke zu entstehen, innerhalb derer wir diskutieren. Dies kann eine Polarisierung der Weltanschauungen fördern.

Gleichzeitig löst sich in den Neuen Medien die Grenze zwischen Gesprächen über Nachrichten und den Nachrichten selbst auf, weil jeder mit einem Blogeintrag oder YouTube-Video Tausende erreichen kann. Das bereichert die Diskussion, doch leider verbreiten sich Unwahrheiten in Windeseile. Selbst wenn wir die „Fake News“ widerlegen, besteht die Gefahr, dass sie die wirklichen Ereignisse aus dem Gedächtnis verdrängen.

Wir können uns jedoch das „abrufinduzierte Vergessen“ auch zunutze machen. Indem wir nämlich mehr über die tatsächlichen Geschehnisse sprechen, verhindern wir, dass die damit verbundenen Fehlinformationen sich festsetzen. Vor allem sollten wir uns bewusst sein, dass Soziale Medien beeinflussen, wie wir uns als einzelne und als Gesellschaft an Ereignisse erinnern werden.

Mascha Elbers

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