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Bloß keine Hitze. Bei der Rohkost-Ernährung werden Speisen nicht über 42 Grad Celsius erhitzt.

© Daniel Naupold/dpa

Ernährung: Die neue Enthaltsamkeit

Glutenfrei, vegan, Rohkost: Warum immer mehr Menschen sich in ihrer Ernährung an feste Regeln halten.

Die Mehrheit der Bürger wünscht sich, dass Fakten auf den Tisch kommen: Laut einer Umfrage der Uni Düsseldorf möchten 72 Prozent der Teilnehmer wissen, was in einem verarbeiteten Lebensmittel drin ist. Auch wenn der Staat den Einkaufswagen mit einem sanften Schubs in den Frischebereich lenkt, ist das willkommen. 69 Prozent der Befragten sind für niedrige Steuern auf Obst und Gemüse. 62 Prozent würden sich allerdings bevormundet fühlen, falls von Amts wegen entschieden werden sollte, dass in der Kantine fleischfreie Tage einzuhalten sind, 47 Prozent lehnen eine Zuckersteuer ab. Die überwiegende Mehrheit gab an, die Auswahl ihrer Lebensmittel selbstbestimmt treffen zu wollen.

Ernährung als Ersatzreligion

Doch erlegen sich Deutschlands Esser die Verbote nicht längst selbst auf, indem sie wahlweise auf Fleisch, alle tierischen Produkte, Milch, glutenhaltige Getreide oder auch auf das Abendessen nach 18 Uhr verzichten? Wird die Beschäftigung mit Ernährung für einige inzwischen gar zur Ersatzreligion?

Das war die Themenfrage des Tagesspiegel-Trendfrühstücks mit Kai Röger vom Magazin „Tagesspiegel Genuss“ am Donnerstag. Die reich gedeckten Tische, die die Teilnehmer im Restaurant „Oh Angie!“ in Berlin-Mitte vorfanden, waren die beste Einführung ins Thema: Qual der Wahl angesichts eines immer unüberschaubarer werdenden Angebots an Speisen und Getränken. „Wir brauchen Leitplanken, und wir sehnen uns nach neuen Wertordnungs- und Halt-Systemen, die früher Familie und Religion boten“, so die Einschätzung des Ernährungspsychologen Thomas Ellroth von der Universität Göttingen. Der Mensch wolle zugleich einer Gemeinschaft Gleichgesinnter angehören und gesamtgesellschaftlich gesehen doch etwas Besonderes darstellen.

Zudem wolle er die „Komplexität der Ess-Entscheidung“ reduzieren. Ziele, denen man heute schon näherkommen kann, indem man den Bäckerladen um die Ecke mit seinen Schrippen und Streuselschnecken aus Prinzip meidet. „Nur so kann man erklären, dass Menschen teurere, schlechter schmeckende Produkte kaufen und essen, obwohl sie keine Gluten-Unverträglichkeit haben.“

Suche nach Identität

„Ernährungslehren, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eint eines: die Suche nach Identität“, meint auch der Psychiater Bernhard Osen von der Schön Klinik Bad Bramstedt. Solange man einem bestimmten Konzept freiwillig folge, sich körperlich nicht schade und seine sozialen Kontakte nicht verliere, sei das nicht besorgniserregend. Neben der Magersucht (Anorexie) und der Ess-Brech-Sucht (Bulimie) beschäftigt die Psychiater allerdings auch zunehmend das Phänomen der „Orthorexie“. Auch das Bestreben, (nur) das Richtige zu essen, kann sich nämlich verselbstständigen und krankhaft werden. „Zuerst fühlt man sich besser. Doch man schränkt seinen Lebensraum ein.“

Diesen Eindruck vermittelte der dritte Frühstücksgast in der Runde nicht: Paul Seelhorst, Veranstalter der „Paleo Convention“, wirkt wie ein geselliger Mensch. Er lebt und verficht die Paläo-Diät, die sich am steinzeitlichen Leben orientiert und Fleisch und Gemüse favorisiert. Sie tritt mit dem Anspruch auf, an ein „Damals“ anzuknüpfen, in dem die Menschen sich noch gesünder ernährten. „Wenn es so wäre, dann würden wir nicht immer älter werden“, widersprach Ellroth. Er verteidigte die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung mit Hinweis auf deren wissenschaftliches Fundament. „Wenn ein Großteil der gesunden Bevölkerung mit einer anderen Ernährung besser fahren würde, dann würde die Fachgesellschaft ihre Empfehlungen ändern.“

Gemeinsam kochen - und essen

Persönliche Essensentscheidungen seien aber ohnehin nie reine Sachentscheidungen, gibt Ellroth zu bedenken. Er ist deshalb auch skeptisch, was die Vermittlung von Ernährungstheorie an Kinder betrifft. „Wenn man will, dass Kinder besser essen, sollte man mit ihnen einkaufen und kochen. Und anschließend gemeinsam am Esstisch sitzen.“

Psychiater Osen warnte davor, einzelne Lebensmittel zu verteufeln und Ängste zu schüren. „Vieles spielt sich im Kopf ab.“ Auf den Esstischen sieht er dagegen eher eine positive Entwicklung. „In meiner Kantine wird heute viel mehr Gemüse und Salat angeboten als noch vor zehn Jahren.“ Gegen diesen Trend stellte sich keiner.

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