zum Hauptinhalt
Ein langer Familienausflug.

© imago images/Xinhua

Herdenmobilität in China: Die unendliche Reise der Elefanten

Einer der China durchstreifenden Elefanten ist wieder zu Hause. Doch die Geschichte dieses langen Marsches geht weiter - und wird zunehmend zu einer Mahnung.

Irgendwann im März 2020 brachen sie auf. Warum, weiß niemand. 16 Asiatische Elefanten – Kühe, Bullen und Kälber, die in einem Schutzgebiet im Süden Chinas lebten, marschierten los. Langsam, stetig, immer weiter nach Norden. Vielleicht hatten sie sogar ein Ziel.

Wanderungen sind Teil des natürlichen Verhaltensrepertoires von Elefanten. Einmal unterwegs, legen Asiatische Elefanten normalerweise etwa drei Kilometer täglich zurück. Diese Reise jedoch ist aufgrund ihrer Länge bemerkenswert. Mehr als 500 Kilometer haben die Tiere bereits hinter sich.

Es ist laut Fachleuten die längste solche Wanderung, die je in China beobachtet wurde. Ihre Route führte sie nicht immer durch Wildnis. Sie marschierten durch Dörfer und kleine Städte, über Felder – und durch Vororte der Millionenmetropole Kunming.

Attraktion und Bedrohung

Auf Fotos und in Videoclips sieht man sie beispielsweise im Laternenschein über eine Schnellstraße laufen. Wo sie auftauchten, wurden Straßen gesperrt, Siedlungen evakuiert. Die Bevölkerung erlebte sie laut Medienberichten aber eher als Attraktion denn als Bedrohung.

Angefangen hatte es im Xishuangbanna-Reservat im südlichen Teil der chinesischen Provinz Yunnan. Hier, in der tropischen Region zwischen Myanmar und Laos, werden die bedrohten Asiatischen Elefanten vor Wilderern geschützt. Nach ihrem Aufbruch im März 2020 erreichten die Tiere im November die für ihren Tee weltbekannte Stadt Pu’Er, 100 Kilometer nördlich ihres Reservats.

Drohnen und Begleitfahrzeuge

Dort hielt sich die Gruppe fünf Monate lang auf, eine der Elefantenkühe gebar in dieser Zeit ein Kalb. Dann setzten sie sich erneut in Bewegung, diesmal für ihre große Reise: Von April bis Mai 2021 wanderten sie weiter Richtung Norden, innerhalb von 40 Tagen legten sie rund 500 Kilometer zurück.

Sie durchquerten die Städte Eshan und Yuxi, bevor sie schließlich Anfang Juni den Stadtrand von Kunming erreichten. Zu dieser Zeit hatten sie bereits weltweit Fans. Vor Ort wurden sie beobachtet und gefilmt. Mir rund einem Dutzend Drohnen wurden die Bewegungen der Elefanten verfolgt. Zeitweise bis zu 200 Fahrzeuge sollen den Trek begleitet haben.

Ein Todesfall und Millionenschäden

Man versuchte zwar, die Tiere von Siedlungen wegzulocken, indem gezielt Mais und Ananas ausgelegt wurden. Dennoch kam es immer wieder zu Begegnungen zwischen Mensch und Elefant. Aufgebrachte Anwohner berichten, wie die Elefanten in ihre Häuser eindrangen, ihre Gärten verwüsteten und Felder zertrampelten. Auf rund eine Million US-Dollar wird der Schaden geschätzt, den die Dickhäuter bisher angerichtet haben. Ein Mensch kam durch die Elefanten in der Nähe von Pu’Er ums Leben.

Örtliche Behörden riefen dazu auf, nichts herumliegen zu lassen, was potenzielles Futter für die Tiere sein könnte, und den Kontakt mit ihnen zu meiden. In einer Mitteilung hieß es: „Es ist verboten, die Elefanten zu umkreisen oder anzustarren oder sie mit Feuerwerkskörpern oder anderweitig zu stören.“

Die Herde vergrößerte sich, weil Kälber geboren wurden. Sie schrumpfte, weil einzelne Tiere die Gruppe verließen. Mittlerweile sind es noch 15. Über die Motivation der Tiere rätseln Forschende aber nach wie vor.

Weg, aber wohin?

Der Trek wird jedenfalls zusehends auch zu einem Exempel für den sich weltweit in verschiedenster Weise abspielenden Konflikt zwischen geschützten großen und gefährlichen Wildtieren und der Bevölkerung – seien es Jaguare in Südamerika, Löwen im südlichen Afrika, Haie in Australien oder mittlerweile wieder der Wolf in Deutschland. Denn gerade für große Wildtiere sind auch große Reservate oft nicht groß genug. In Xishuangbanna etwa, der Heimat der Herde, finden die Tiere zwar Schutz.

Innerhalb der vergangenen 40 Jahre ist ihre Zahl aber auch von 180 auf rund 300 gewachsen. Eine kaum überraschende These lautet, dass einfach nicht mehr genug Platz war. Möglich, dass dieser Populationsdruck einen Wanderinstinkt weckte und sie schlicht neue Lebensräume suchen. Deshalb zieht sie vielleicht auch nichts nach Hause zurück.

Doch bleiben können sie auch nirgendwo. Denn Gebiete, die ihren Anforderungen entsprechen, sind im südlichen China rar. Es gibt sie eigentlich gar nicht mehr. Wälder, in denen sie leben konnten, mussten in den vergangenen Jahren Teeplantagen weichen, Schnellstraßen durchschneiden die alten Wanderrouten. In den vergangenen 20 Jahren sind 40 Prozent der Elefantenhabitate in Yunnan verschwunden, schreiben Forschende in einem Brief im Fachblatt „Nature“. Mittlerweile vermuten die Expertinnen und Experten auch, dass der Trubel die Tiere so gestört hat, dass sie ihre Orientierung verloren haben – und sie selbst wenn sie wollten, allenfalls zufällig zurückfinden würden.

Ein Heimkehrer

Noch immer jedenfalls ist die Herde in Bewegung. Und noch immer wird tonnenweise Futter ausgelegt, um ihren Weg zu lenken. Vielleicht mit Erfolg. Statt weiter in Richtung Norden zu wandern, sind sie nun jedenfalls umgekehrt. Mitte Juni hielten sie sich wieder in einem Stadtteil von Yuxi auf. Etwa zu dieser Zeit setzte sich ein Elefantenbulle von der Gruppe ab und wanderte allein weiter. Auch er streifte durch Dörfer auf der Suche nach Futter. 190 Kilometer legte er zurück. Dann entschloss man sich, seine Reise zu beenden: Er wurde eingefangen und in das Reservat transportiert. Kürzlich wurde auch ein verletztes, zurückgelassenes Kalb in ein Schutzzentrum gebracht.

Die Herde aber bleibt vorerst ein wanderndes Mahnmal für den Konflikt zwischen Mensch und Großwild.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false