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Fossilien: Ein Fisch mit Handgelenken

Aus der Haut wurden Zähne, aus Flossen Füße. Ein Fossil zeigt das Erbe der Evolution im menschlichen Genom.

Von Berufs wegen nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen zu suchen, ist nicht jedermanns Sache. Versteinerte Zeugnisse aus der Frühzeit der Evolutionsgeschichte zu finden, ist weitaus schwieriger; noch dazu, wenn sie das richtige Alter haben sollen.

Als angehender Forscher hatte sich der amerikanische Paläontologe Neil Shubin von der Universität in Chicago in den Kopf gesetzt, nach solchen erdgeschichtlichen Stecknadeln zu suchen. Er wollte sie ausgerechnet in 375 Millionen Jahre alten Ablagerungen finden und zwar im Gestein auf der Ellesmere-Insel, die auf mehr als 80 Grad nördlicher Breite in der kanadischen Arktis liegt.

In 385 Millionen Jahre altem Gestein findet man ganze Fische; und die sehen tatsächlich auch aus wie Fische, mit Flossen und mit einem spitz zulaufenden Kopf ohne Hals und Schuppen. Vor 365 Millionen Jahren wurde das Land besiedelt, und man kennt amphibienähnliche Fossilien, die wie riesige Lurche den heutigen Amphibien ähneln.

Doch was Shubin wollte, war ein Mittelding zwischen einem Fisch und einem Landbewohner. Die, so spekulierte er, finden sich im Gestein mit einem Alter von 375 Millionen Jahren – und das wiederum stand auf der arktischen Ellesmere-Insel an. Bislang hatten Paläontologen dort noch nicht nach Fossilien gesucht.

Nun ist die Arktis riesengroß und öde. Das potenziell fossilführende Gestein lag in einem 1500 Kilometer breiten Gebiet frei, wo im Sommer Schneematsch und vom Frost verwitterter Gesteinsschutt den Boden bedeckt. Die Tiere, die Shubin suchte, waren nur gut einen Meter lang. Im Verlauf von sechs Jahren brachte Shubin vier frustrierende Expeditionen zur Ellesmere-Insel hinter sich. Dann wurde er fündig. Gemeinsam mit zwei Kollegen gelang ihm im arktische Sommer 2004 die sensationelle Entdeckung eines eigentümlichen Fossils. „Tiktaalik“ – großer Süßwasserfisch – so tauften die Forscher das Tier in der Sprache der Inuit.

Das Fossil erwies sich bei näherer Untersuchung als eine Art Zeitkapsel. Es hatte Schuppen und Flossen, aber einen flachen Kopf mit Hals, Rippen – und vor allem hatte es bereits spezialisierte Knochen in den Flossen, auf denen es sich fortbewegen konnte. Tiktaalik war zu Liegestützen in der Lage. „Wir starrten auf den Ursprung eines unserer eigenen Körperteile. Wir hatten einen Fisch mit einem Handgelenk gefunden.“

Tiktaalik verkörpert den evolutionären Übergang von im Wasser lebenden Fischen mit Flossen zu an Land mittels Beinen laufenden Wirbeltieren.

Am Beispiel von Tiktaalik erzählt der amerikanische Paläontologe von seiner Spurensuche nach den Zeugnissen der 3,5 Milliarden Jahre alten Evolutionsgeschichte. Diese Geschichte hat sich in unseren Körpern bewahrt. Sein Buch „Der Fisch in uns“ ist jetzt auch auf deutsch erschienen. Dabei ist Shubin eine unterhaltsame Zeitreise gelungen. Die Knochen vorzeitlicher Fische können uns helfen – davon ist der Autor überzeugt – mehr darüber zu erfahren, wer wir sind und warum wir so geworden sind, wie wir sind. Denn „in unseren Gliedmaßen steckt nicht nur ein einziger Fisch; in ihnen steckt ein ganzes Aquarium“.

Am Bauplan von Mensch und Tier erzählt der 44-jährige Forscher von Ereignissen aus der Geschichte des Lebendigen. Tatsächlich tragen wir alle die Spuren dieser Ereignisse noch heute in uns – als Teil unseres Körperbaus. Sämtliche wichtige Bauteile des Menschen – von den Extremitäten- und Schädelknochen zu Zähnen, Kieferkonstruktionen und Kiemenbögen – finden wir bei Tieren schon vor Hunderten von Jahrmillionen. Soweit nichts Neues bei Shubin, denn das haben Wirbeltieranatomen über bald zwei Jahrhunderte bis ins Detail erforscht.

Dem Paläontologen Shubin gelingt es nun, auf originelle Weise die Geschichte der Entstehung unseres Körpers anschaulich werden zu lassen. In dem Buch, in dem es keineswegs nur um Fische geht, nimmt er den Leser mit auf eine Entdeckungsreise durch den menschlichen Körper. Er erzählt, wie sich Zähne aus dem Panzer haiähnlicher Fische entwickelten, dass unsere Hände und Füße genetisch von Fischflossen abstammen und auch, warum wir an Schluckauf leiden.

Leichten Fußes wandert Shubin durch die Geschichte der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsbiologie. Fast beiläufig erfahren wir vom Credo der modernen Biologie. Demnach gehören keineswegs nur Fische in unsere Vergangenheit, sondern auch alle übrigen Lebewesen – angefangen bei Wirbellosen wie der Seeanemone bis hin zur Taufliege Drosophila.

Mit ihnen teilen wir die genetische Rezeptur, gleichsam einen Satz immer wieder gleicher Bauanleitungen in unserer Erbsubstanz – die Hox-Gene –, aus denen sich die Natur bei allen Lebewesen bedient hat.

Offenbar greift die Natur bei der Entwicklung von Organen immer wieder auf dieselben Werkzeuge zurück, auf bewährte genetische Kontrollinstanzen, die sie äußerst flexibel nutzt. Nach dem Motto „Aus alt mach neu“ ist weiterverwendet worden, was sich beim Überleben während der Äonen der Evolution bereits behauptet hat.

Die Natur arbeitet ähnlich wie Software-Programmierer: Anstatt überholte Systeme komplett auszurangieren, werden Ergänzungsprogramme gleichsam als algorithmische Erker angebaut und so in den Programmen alte und neue Elemente vermischt.

Leicht verständlich, wie man es in Büchern profilierter Forscher selten findet, erzählt Shubin von den jüngsten Studien der evolutionären Entwicklungsbiologie und von den enormen Möglichkeiten, dadurch „den inneren Fisch zu erkennen“. Die verbesserten Techniken und Einblicke der Molekulargenetik machen es heute möglich, nach den Spuren unserer Evolution nicht mehr nur im Körperbau, sondern direkt am Erbgut lebender Tiere zu forschen. So sind im Erbgut jedes Menschen die Zeugnisse der Milliarden Jahre währenden stammesgeschichtlichen Entwicklung bewahrt. Der Baum des Lebens wurzelt teilweise auch in uns, davon sind Evolutionsbiologen heute überzeugt.

Neil Shubin: „Der Fisch in uns“, Fischer Verlag, Frankfurt 2007, 288 Seiten, 19 Euro 90. Der Autor hält am heutigen Montag, den 19. Mai 2008, um 19.30 Uhr einen Vortrag in der Urania Berlin. Eintritt 5 Euro, ermäßigt 4 Euro 50, Urania-Mitglieder zahlen 3 Euro 50. Moderation: Hartmut Wewetzer (Tagesspiegel).

Matthias Glaubrecht

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