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Leicht abgelenkt: ADHS ist eine Aufmerksamkeitsstörung.

© Izard Schiphof

Eine Anthropologin über ADHS: Was hierzulande als Symptom gilt, ist anderswo ganz normales Verhalten

Wo und wie wir aufwachsen, wirkt sich auf unser Verhalten aus. Eine Anthropologin der Freien Universität untersucht, wie Menschen aus unterschiedlichen sozialen Umfeldern mit den Symptomen von ADHS umgehen.

Von Elias Reuter

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Sobald er Dinge tut, die ihn wirklich faszinieren, sei er oft wie gebannt davon, erzählt Salim, Student an der Berliner Universität der Künste. In diesem Zustand des Hyperfokus können Menschen erstaunlich produktiv werden: „Ich schätze, das ist der Grund, warum ich sechs Instrumente spiele“, sagt der 25-Jährige, der Kontrabass studiert. Dass er schon als Kind die Diagnose ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, erhalten hatte, wisse er erst seit Kurzem.

Mit der „Störung“ ist eine Unregelmäßigkeit bei der neuronalen Entwicklung gemeint. Heute bezeichnet man Betroffene auch als „neurodivers“, um das Spektrum an mehr oder weniger starken Abweichungen zu berücksichtigen und sie nicht sofort als krank zu stigmatisieren. Auch für Kathrin Bauer, Doktorandin an der Freien Universität Berlin, wäre das eine zu einseitige Sicht. Am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie untersucht sie, wie sich das soziale Umfeld in verschiedenen Kulturen auf Menschen mit ADHS auswirkt.

„Dass es sich um eine Störung handelt, möchte ich nicht ausschließen.“ Die Forscherin interessiert sich allerdings auch dafür, ob es neben bestimmten Prozessen im Gehirn noch andere Ursachen dafür geben könnte, dass bei manchen Menschen Symptome als Anzeichen für ADHS eingestuft werden. Um dem Einfluss des individuellen Umfelds der Betroffenen auf den Grund zu gehen, wertete Bauer im Rahmen ihrer Studien 170 Online-Fragebögen aus und befragte rund 140 Personen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten.

Vielseitiges Kolumbien als Forschungsgegenstand

Dafür richtete sie den Blick auf Kolumbien. „Das Land ist wegen seiner kulturellen Vielfalt, den Großstädten und kleinen Dörfern, hervorragend geeignet“, erklärt sie. An sieben Orten führte sie insgesamt 120 qualitative Interviews mit Kindern, Familienangehörigen und Lehrkräften durch. Zudem nahm Bauer am Lebensalltag der Menschen teil, indem sie zum Beispiel den Schulunterricht besuchte.

In Kolumbien bestehen der Doktorandin zufolge große Unterschiede zwischen Stadt und Land, was die Diagnosehäufigkeit betrifft. Denn in Medellín, einer Stadt mit 2,5 Millionen Einwohnern, sei die Zahl der Diagnostizierten sehr hoch, erklärt Bauer – anders als in den ländlichen Gebieten.

Häufig bekam ich die Antwort, dass die Symptome auf der Liste sämtliche Kinder der jeweiligen Schule treffend beschreiben.

Kathrin Bauer über ihre ADHS-Forschung in Kolumbien.

Um betroffene Kinder ohne Diagnose ausfindig zu machen, nutzte Bauer eine Liste mit typischen ADHS-Symptomen. Diese übergab sie an Lehrerinnen und Lehrer afrokolumbianischer Gemeinden. „Häufig bekam ich die Antwort, dass die Symptome auf der Liste sämtliche Kinder der jeweiligen Schule treffend beschreiben“, sagt sie – dort würde offenbar als normales Verhalten von Schulkindern verstanden, was in Deutschland als hyperaktiv gilt. Die Lehrkräfte verstünden es eher als ihre eigene Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich zu ziehen, hätte ihre Umfrage gezeigt.

Indigene Kinder haben einen aktiveren Alltag

An den Schulen von indigenen Communities, wo die Anthropologin ebenfalls Interviews führte, sei ihr jedoch kaum von hyperaktiven Kindern berichtet worden. Ob das mit Unterschieden in der Lebensweise im Zusammenhang steht, ließe sich kaum eindeutig beurteilen. Im Alltag gebe es für die Kinder in den Dörfern viel mehr körperliche Betätigung, auch sei ein langer Schulweg keine Seltenheit. Dies könnte dazu beitragen, dass die Kinder in der Schule weniger unruhig seien, vermutet Bauer.

In Deutschland liegt die Diagnosehäufigkeit von ADHS etwa bei fünf Prozent aller Schulkinder. In Medellín seien es der Forscherin zufolge zwischen 10 und 20 Prozent, während es in ländlichen Gebieten hingegen fast nie diagnostiziert würde. Einige Eltern wollten ihre Kinder nicht diagnostizieren lassen und verwiesen stattdessen auf die positiven Eigenschaften ihrer Kinder wie Empathie, Offenheit und Energie.

In manchen Lebensbereichen unserer Gesellschaft könne die Symptomatik von ADHS stark beeinträchtigend sein, sagt Bauer: „Das heißt aber nicht, dass es per se pathologisch sein muss.“ Dass es sich lohnen kann, ADHS nicht nur aus einem negativen Blickwinkel zu betrachten, zeigt das Beispiel das Bassisten Salim. Für Bauer ist es wichtig, den medizinischen und den sozialwissenschaftlichen Ansatz nicht unbedingt als Gegensätze zu verstehen.

„Ich habe kaum Menschen getroffen, die ihre Kinder gern mit Medikamenten wie Ritalin behandeln. Gleichzeitig gibt es kaum andere Lösungen.“ Es sei an der Zeit, einen Gegenentwurf zu unserem Bild von ADHS zu zeichnen, um in Zukunft mehr Handlungsoptionen für Personen zu entwickeln, die etwas anders ticken als der Durchschnitt.

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