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Die Vorstellungen der katholischen Kirche zu Ehe und Zusammenleben im 12. und 13. Jahrhundert beeinflusst die Gesellschaft noch heute, meinen Forscher im Fachblatt "Science".

© imago/Leemage

Einfluss der Kirche prägt Gesellschaft noch immer: In der Kleinfamilie wirkt das Mittelalter nach

Die westliche Welt ist von Regeln geprägt, die aus der katholischen Kirche stammen, sagen Forscher. Das betreffe sowohl Familienstrukturen als auch die Psyche.

Die Ehe- und Familienvorstellungen der katholischen Kirche des Mittelalters prägen bis heute das Zusammenleben und Denken in der westlichen Welt. Diese These vertreten US-Forscher im Fachmagazin „Science“. „Mit der Studie wollen wir Unterschiede in der Psychologie zwischen den Gesellschaften erklären“, sagt Hauptautor Jonathan Schulz von der George-Mason-Universität in Fairfax im US-Bundesstaat Virginia.

Die Untersuchung zeigt auf, dass die gegenwärtigen Familienstrukturen der westlichen Welt – eher Vater-Mutter-Kind-Einheiten als größere Verbände – auch auf Regeln zurückgeführt werden können, die die frühe Kirche zu Wahl des Ehepartners aufgestellt hatte. Zudem stellen die Forscher einen Zusammenhang zwischen dieser Familienstruktur und der Psyche der Menschen fest. Ein deutscher Kulturpsychologe sieht aber auch einige Schwächen bei der Studie.

Das Team um Schulz beruft sich in seiner Arbeit auf eine Vielzahl von Studien, nach denen psychologische Merkmale rund um den Globus variieren. Demzufolge zeichnen sich Menschen etwa aus Westeuropa, Nordamerika und Australien durch eine höhere Individualität, Unabhängigkeit, oder durch verstärktes analytisches Denken – im Gegensatz zu ganzheitlichem Denken – aus.

Die Ursprünge dieser Merkmale sehen die Wissenschaftler in der Familie. „Die Familie ist die erste Struktur, der ein Kind ausgesetzt ist. Das hat Auswirkungen auf die Psychologie“, sagt Schulz.

Wo die Kirche lange wirkte, dominiert die Kleinfamilie

Um ihre These zu untermauern, verglichen die Forscher globale Datensätze miteinander.

So nahmen sie unter die Lupe, wie lange eine bestimmte Weltregion unter dem Einfluss der katholischen Kirche stand. Dort konnte die Kirche ihre Vorstellungen und Regularien zu Ehe und Familie den Forschern zufolge am besten durchsetzen. Dazu gehört beispielsweise das Verbot, dass sich Cousin und Cousine vermählen. Kinder aus diesen Ehen haben ein erhöhtes Risiko für genetisch bedingte Fehlbildungen. Zudem mussten beispielsweise Anfang des zweiten Jahrtausends Frischvermählte in einen eigenen Haushalt ziehen. Der Theorie nach sorgte die katholische Kirche im Mittelalter dafür, dass sich Familienverbände und Clans auflösten.

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Zudem analysierten die Forscher, wo auf der Welt besonders enge Familienverbände üblich sind, also wo beispielsweise die Ehe zwischen Cousin und Cousine verbreitet ist, Großfamilien häufig zusammenwohnen oder große Familienverbände innerhalb eines Stadtviertels wohnen. Schließlich analysierte das Team um Schulz ländervergleichende Daten zu verschiedenen psychologischen Parametern.

Durch den Vergleich all dieser Daten – zum Teil auch auf regionaler Ebene innerhalb europäischer Länder – sehen die Forscher das Muster, dass sie nun in „Science“ vorstellen. Es sieht vereinfacht gesagt so aus: Wo die katholische Kirche lange wirken konnte, dominiert besonders die Kleinfamilie. Wenn die Kleinfamilie dominiert, ist die Gesellschaft unter anderem besonders von Individualität und Unabhängigkeit geprägt.

„Die Ergebnisse sind bemerkenswert“, kommentiert Kulturpsychologin Michele Gelfand von der Universität Maryland in College Park (USA) ebenfalls in „Science“. Es sei eines der größten Rätsel der Sozialwissenschaften, wie die immense kulturelle Vielfalt auf der Welt entstanden ist. Gelfand zeigt sich beeindruckt von der Datenfülle, die in die Untersuchung geflossen sind. Allerdings weist sie auch darauf hin, dass weitere Forschung nötig sei, um überzeugende kausale Zusammenhänge zu zeigen.

„Zu starke Vereinfachung“

Auch Pradeep Chakkarath, 2. Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Kulturpsychologie, weist darauf hin, dass die Untersuchung zwar durchaus interessante Korrelationen nachweise, solche Korrelationen womöglich aber auch mit anderen, unbeachtet gebliebenen historischen Faktoren bestehen. Die These von Schulz und seinem Team vereinfache durch die Betonung von nur einem Faktor zu stark.

Die Untersuchung blende etwa einflussreiche Theorien aus, wonach der Individualismus, den die Studienautoren als typisches Merkmal westlicher Gesellschaften sehen, nicht primär auf katholische Einflüsse, sondern auf die Entstehung des protestantischen Menschenbildes seit dem 15. Jahrhundert zurückgehe. Die Ergebnisse der Studie wären überzeugender, hätte man zumindest auch diesen Zusammenhang getestet oder wenigstens dazu Stellung genommen, sagte Chakkarath. Er wünscht sich auch eine Unterscheidung der verschiedenen Formen von Individualismus, die nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Kontext zu Kontext – beispielsweise in der Familie im Gegensatz zum Arbeitsumfeld – variieren können. Valentin Frimmer (dpa)

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