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Gefürchtete Weltkriegsseuche „Gasbrand“ kehrt zurück: „Neun von zehn Antibiotika funktionieren nicht“
Aufgedunsene Leiber, fleischzersetzende Bakterien: „Gasbrand“ war in den Weltkriegen gefürchtet und ist eigentlich mit Antibiotika behandelbar. Doch nun berichten ukrainische Ärzte von der Front: Die Seuche ist zurück.
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Es beginnt harmlos. Erst fiebern die verwundeten Soldaten nur, haben Schüttelfrost. Doch dann blähen sich ihre Wunden auf und riechen muffig – Anzeichen, dass die Körperabwehr die Bakterien nicht mehr zurückhalten kann. Binnen Stunden entwickelt sich eine Sepsis, die Mikroben zersetzen Haut, Muskeln, jegliches Gewebe. Oft ist es für eine lebensrettende Behandlung zu spät, wenn die Front-Ärzte schließlich die Diagnose stellen: Gasbrand.
Hunderttausende Soldaten starben während der Weltkriege an dieser bakteriellen Wundinfektion, auch Myonekrose genannt. Jetzt ist sie zurück: Bei verletzten Soldaten und Zivilisten an der ukrainischen Front.
Schon in Friedenszeiten, bei bester medizinischer Versorgung, liegt die Sterblichkeit dieser gefürchteten Erkrankung bei etwa 20 bis 30 Prozent. Unter Kriegsbedingungen, also un- oder unterbehandelt, kann sie jedoch schnell 100 Prozent erreichen.
Die russische Armee verstößt jeden Tag gegen internationales Recht, die Genfer Konvention und alle Regeln der Moral, indem sie Sanitäter, Verwundete, Zivilisten und Feldlazarette angreift.
Yevhenii Liashchenko, Evakuierungssanitäter in der Ukraine
Gasbrand wird ausgelöst durch das praktisch überall – im Boden, Staub, im Darm von Tieren und Menschen und sogar in der Luft – vorkommende Bakterium Clostridium perfringens. Wenn es eine Wunde erst einmal infiziert hat, zersetzt es nicht nur das abgestorbene Gewebe, sondern greift alsbald auch die umliegenden, noch intakten Zellen an. Die Mikroben fressen sich buchstäblich ins Fleisch und sondern dabei 17 verschiedene Gifte ab. Zugleich lassen die Gase, die die Bakterien zusätzlich freisetzen, die befallenen Körperteile anschwellen.
Normalerweise lässt sich der Gasbrand durch rechtzeitige Wunddesinfektion oder Antibiotikabehandlung meist verhindern – außer es ist Krieg. Auch im Ukraine-Krieg steigen die Fallzahlen nun wieder. Das bestätigte der ukrainische Frontsanitäter Yevhenii Liashchenko dem Tagesspiegel. In den Krankenhäusern sei der Gasbrand derzeit allgegenwärtig.
Zu gefährlich für Wundversorgung
„Dafür gibt es viele Gründe“, sagt Liashchenko, der sein Medizinstudium kriegsbedingt nicht fortsetzen konnte und sich nun in einem Feldlazarett um die Evakuierung von verwundeten und gefallenen Soldaten aus den Regionen Sumy und Donezk kümmert. Die Soldaten litten unter Mangelernährung, Dauerstress und ständiger Erschöpfung. „Das schwächt ihr Immunsystem.“
Hinzu käme die mangelnde Hygiene: „Wenn ein Soldat eine Schnittwunde hat, behandelt er sie möglicherweise gar nicht, da die unmittelbare Sicherheit wichtiger ist“, sagt Liashchenko. Aber selbst kleinere Verletzungen, etwa Erfrierungen der Haut oder ein Splitter, könnten Wunden infizieren. „Im Militär herrscht kein sauberes Klima: Schmutz, fremdes Blut und Schießpulver können in jede Wunde gelangen.“
Im Frieden wären solche Verletzungen kein Problem, dann kann die Wunde steril behandelt werden. Doch in den Stellungen an der Front fehlen nicht nur das medizinische Fachpersonal, Medikamente und Hygieneartikel.
Oft ist es aufgrund der ständigen Bedrohung durch Drohnen nicht möglich, Ärzte und Arzneimittel zu den Verletzten zu bringen oder die Verwundeten in Kliniken im sicheren Hinterland zu evakuieren, berichtet Liashchenko. „Die russische Armee verstößt jeden Tag gegen internationales Recht, die Genfer Konvention und alle Regeln der Moral, indem sie Sanitäter, Verwundete, Zivilisten und Feldlazarette angreift.“ Die Liste sei „sehr lang“.
Insbesondere die stockende Versorgung mit Antibiotika wie Vancomycin oder Carbapenem sei „eine enorme Herausforderung“. An der Front bedeutet jede Verzögerung, dass Wunden länger offenbleiben und Infektionen tiefer eindringen können.

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Wenn die Erstversorgung ausbleibt oder sich hinzieht, kommen die Verwundeten oft erst in einem Zustand im Lazarett an, in dem die Behandlung nicht nur komplizierter, sondern auch riskanter wird. Schwere Komplikationen häufen sich und die Sterblichkeit steigt, zumal „neun von zehn Antibiotika nicht funktionieren“, so Liashchenko.
Dadurch steige der Bedarf an besonderen, teuren Antibiotika, etwa Clindamycin, das die Produktion der Bakteriengifte (siehe Infokasten) hemmen und damit deren Wirkung mindern könnte.
Beste Bedingungen für Resistenzen
Dass sich Antibiotika-Resistenzen in derartigen Mangelsituationen verbreiten, ist nicht ungewöhnlich. Wenn bakterienabtötende oder wachstumshindernde Wirkstoffe nicht regelmäßig über die nötige Zeit verabreicht werden, dann sinkt ihre Konzentration im Körper der Patienten. Genau in diesem Bereich der Unterdosierung können Bakterien überleben.

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Vor allem jene, die bereits eine gewisse Resistenz gegen Antibiotika haben. Wird eine Antibiotikatherapie frühzeitig abgebrochen oder häufiger unterbrochen, können sich jene leicht resistenten Erreger vermehren. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass noch widerstandsfähigere Mikroben entstehen. Chlostridien, die Gasbrand-Bakterien, sind bekanntermaßen ohnehin schon gegen verschiedene gängige Antibiotika resistent.
Hinzu komme, dass die resistenten Keime in den hoffnungslos überlasteten Feldlazaretten und frontnahen Gesundheitseinrichtungen weiter verbreitet werden, „durch die Kleidung von Ärzten und Soldaten, durch medizinische Instrumente, durch die Hände und Handschuhe von Personal und Patienten“, sagt Liashchenko.
Zwar versuche die Europäische Union bereits zu helfen, etwa durch das MEDEVAC-Programm, die medizinische Evakuierung verletzter Ukrainer in europäische Gesundheitseinrichtungen. „Und sie leistet hervorragende Unterstützung bei der Ausbildung von Ärzten und der Bereitstellung von Labortests, wofür wir sehr dankbar sind.“ Aber im Land selbst mangele es an Spezialisten.
Die Aussichten, dass sich die Zahl der Fälle von Gasbrand und anderen, vermeidbaren Folgeerkrankungen von Wundinfektionen zeitnah verbessert, sind schlecht. Trotz aller Vermittlungsbemühungen dauert der Krieg in der Ukraine an; Kliniken und andere zivile Einrichtungen werden weiter von russischen Truppen bombardiert und Drohnen verhindern, dass Verletzte evakuiert werden. Unter solchen Bedingungen bedeuten leicht behandelbare Infektionen Lebensgefahr.
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