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Genetik: Indiens Ureinwohner

Zwei Völker verewigten sich im Erbgut: Der bunte Teppich des Vielvölkerstaates birgt noch immer die biologischen „Fäden“ von zwei Menschengruppen in sich.

Mit fast 1,2 Milliarden Einwohnern ist Indien nach China das bevölkerungsreichste Land . Seine verschiedenen Völker und Stämme, das Kastensystem und mehr als 100 gesprochene Sprachen verschaffen dem Land einen ebenso unermesslichen wie für den Außenstehenden verwirrenden Reichtum an Menschen und Kulturen. Umso erstaunlicher, dass der bunte Teppich des Vielvölkerstaates noch immer die biologischen „Fäden“ von zwei Menschengruppen in sich birgt, die vor Tausenden von Jahren den Subkontinent besiedelten. Das ist das Ergebnis einer Analyse indischer und amerikanischer Wissenschaftler, die nun im Fachblatt „Nature“ veröffentlicht wurde.

Wie kann man mit Hilfe der Genetik in die Vergangenheit reisen? Zwar sind alle Menschen zu 99,9 Prozent genetisch identisch, doch genügt das restliche Promille, um anhand der Abweichungen und Gemeinsamkeiten auf Verwandschaft und Vorfahren zu schließen.

Die Wissenschaftler vom Broad-Institut in Cambridge und dem Zentrum für zelluläre und molekulare Biologie in Hyderabad studierten bei 132 Indern aus 25 verschiedenen Gruppen Unterschiede bei einzelnen Nukleotiden, den chemischen „Buchstaben“, aus denen die Erbinformation DNS besteht. Solche minimalen Abweichungen in einer ansonsten fast identischen DNS-Sequenz tauchen etwa nach jeweils 1200 „Buchstaben“ auf. Man schätzt, dass es im menschlichen Erbgut etwa zehn Millionen solcher Einzelnukleotid-Polymorphismen gibt. Eine halbe Million von ihnen haben die Forscher mit „Gen-Chips“ gescannt.

Es sind zwei Gruppen von Vorfahren, die sich bei den meisten Indern im Erbgut in wechselnden Anteilen verewigt haben. Zum einen eine von den Forschern als „ursprüngliche Nordinder“ bezeichnete Völkerschaft, die genetisch Menschen des Mittleren Ostens und Zentralasiens, vor allem aber Europas nahesteht. Und zum anderen die „ursprünglichen Südinder“. Sie sind nicht mit einer Gruppe außerhalb Indiens verwandt.

Die Gene der Ur-Nordinder finden sich eher bei höheren Kasten und bei Menschen, die indoeuropäische Sprachen sprechen. Es liegt deshalb nahe, ihre Herkunft mit den Indoeuropäern in Verbindung zu bringen, die vor 3500 Jahren den Subkontinent besiedelten und die bis dahin vorherrschenden Draviden in den Süden abdrängten. Trotzdem finden sich ebenso die genetischen Anteile der ursprünglichen Südinder bei so gut wie allen heute lebenden Indern.

Bedeutsam ist noch eine weitere Erkenntnis der Wissenschaftler. Ein großer Teil der heutigen Inder ist Nachkomme sehr kleiner, isolierter Menschengruppen. Diese grenzten sich von anderen ab und vermehrten sich hauptsächlich untereinander. Auf diese Weise konnten sich vermutlich auch bestimmte genetisch bedingte Leiden in solchen Gruppen ausweiten. Genetiker sprechen von einem „Gründereffekt“, der in Indien jeweils zwischen 750 und 2500 Jahren zurückliegen soll. Er könnte erklären, warum Indien genetisch drei- bis viermal so vielfältig ist wie Europa. Es mag ironisch klingen: Vielfalt – zumindest genetische – entsteht offenbar durch Abgrenzung. Hartmut Wewetzer

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