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Als Fledermäuse verkleidete Kinder und Jugendliche tanzen auf dem Karneval der Kulturen in Berlin.

© Soeren Stache/dpa

Update

Globale Kompetenzen in der Pisa-Studie: Hoher Respekt vor anderen Kulturen, aber wenig Lerninteresse

Warum sind 15-Jährige in Deutschland wenig am "Lernen über andere Kulturen" interessiert? Eine Pisa-Sonderauswertung kommt zu widersprüchlichen Aussagen.

Rund 60 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland sehen sich als "Weltbürger" - und sie haben das Zeug dazu. Aus ihren Familien und aus dem schulischen Umfeld bringen sie die Überzeugung mit, bei "globalen Themen" etwas bewirken zu können. Sie äußern großen Respekt gegenüber anderen Kulturen und sind in der überwiegenden Mehrheit mehrsprachig.

Andererseits zeigen die Jugendlichen wenig Interesse, Neues über andere Kulturen zu lernen. Und sie sind im weltweiten Vergleich unterdurchschnittlich aktiv, wenn es etwa darum geht, sich in den sozialen Medien über das Weltgeschehen zu informieren.

So widersprüchlich stellt sich die "globale Kompetenz" von 15-Jährigen hierzulande nach einer Sonderauswertung der Pisa-Studie von 2018 dar. Die Organisation für wissenschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat dafür Altersgenossen weltweit - ergänzend zu den klassischen Pisa-Aufgaben im Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften - hinsichtlich ihrer Fähigkeit befragt, Informationen aus anderen Teilen der Welt einzuordnen und kritisch mit ihnen umzugehen.

„Es ist wichtig, dass Schülerinnen und Schüler sich in einer zunehmend vernetzten und durch kulturelle Diversität gekennzeichneten Welt zurechtfinden“, erklärte die Leiterin der deutschen Pisa-Studie, Kristina Reiss, Professorin am Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien (ZIB) an der TU München, am Donnerstag anlässlich der Veröffentlichung der Ergebnisse (die vollständige Studie finden Sie hier, die Ergebnisse für Deutschland hier).

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Selbstbewusste deutsche Jugendliche

Schülerinnen und Schüler aus 66 Ländern und Volkswirtschaften haben an dem Test zur globalen Kompetenz teilgenommen. In 27 Ländern bearbeiteten sie dazu Test-Aufgaben und beantworteten einen Fragebogen, 39 Länder, darunter Deutschland, entschieden sich für die kleinere Variante, bei der nur der Fragebogen ausgefüllt wurde. In Deutschland nahmen rund 3800 Jugendliche im Frühjahr 2018 teil.

An Selbstbewusstsein mangelt es den jungen Deutschen jedenfalls nicht, wenn es um globale Fragen geht. 88 Prozent trauen sich zu, verschiedene Gründe für die weltweiten Flüchtlingsbewegungen zu diskutieren. Im OECD-Durchschnitt sind es 77 Prozent.

[Die Sinus-Jugendstudie 2016 zeigte, dass sich Jugendliche für Vielfalt stark machen. Unseren Bericht über die aktuelle Sinus-Studie lesen Sie hier]

Gut informiert und aussagefähig fühlen sich die 15-Jährigen in Deutschland auch, wenn es um Erklärungen für unterschiedlich ausgeprägte Folgen des Klimawandels für die Weltregionen geht (77 Prozent; OECD: 72 Prozent). Schwerer tun sich sich mit Erkenntnissen über Auswirkungen der Kohlendioxid-Emissionen auf den Klimawandel. Hier fühlen sich 61 Prozent gewappnet, OECD-weit sind es 63 Prozent.

Auf einer Stufe mit Ungarn und der Slowakei

Die Bildungsforscher des Pisa-Konsortiums heben das mit rund 50 Prozent vergleichsweise geringe Interesse am "Lernen über andere Kulturen" hervor. Damit liegen die deutschen Jugendlichen auf einer Linie mit ihren Altersgenossen in Ungarn, Italien und der Slowakischen Republik. Besonders ignorant erscheint diese Ländergruppe, wenn es um das Wissen über die Weltreligionen geht - daran sind nur 31 Prozent interessiert (OECD: 40 Prozent).

Woran dieses scheinbare Desinteresse an anderen Kulturen liegt, wird in der Auswertung nicht analysiert. Einen Erklärungsansatz könnte ein weiterer Fragekomplex liefern: In Deutschland geben 72 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, in der Schule Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern zu haben (OECD: 53 Prozent), im Freundeskreis sind 77 Prozent interkulturell unterwegs (OECD: 63 Prozent) und in ihren Familien 52 Prozent (OECD: 54 Prozent).

Schülerinnen und Schüler sitzen mit Masken in einem Computerraum.
Selbstverständlich interkulturell - Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse eines Gymnasiums in Frankfurt am Main.

© Boris Roessler/dpa

Positive Einstellung zur Interkulturalität

Womöglich also nehmen die Jugendlichen an, sie wüssten schon vieles über andere Kulturen. Dass sie in der überwiegenden Mehrheit positive Einstellungen mit Interkulturalität verbinden, belegt auch der große Respekt vor anderen Kulturen. In Deutschland bejahen 87 Prozent die Frage, ob sie Menschen anderer geografischer oder kultureller Herkunft als gleichwertig und gleichberechtigt betrachten (OECD: 82 Prozent).

Die Leiterin der deutschen Pisa-Studie weist auf einen Zusammenhang mit der Herkunft der Jugendlichen hin: Ein größeres Interesse, etwas über andere Kulturen zu lernen, hätten Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund im Vergleich zu denjenigen ohne Zuwanderungshintergrund. Erstere schätzten das Klima an den Schulen in Deutschland als diskriminierender ein als letztere.

Schülerinnen und Schüler aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status haben in Deutschland eine positivere Einstellung zu gleichen Rechten für Zuwanderinnen und Zuwanderern. Zudem hätten Mädchen ein höheres Interesse an anderen Kulturen als Jungen, die sich wiederum höhere Kompetenzen beim Lösen globaler Probleme zuschreiben.

Zu den "globalen Kompetenzen" der Jugendlichen hierzulande zählen zweifellos auch ihre Sprachkenntnisse. Die Autoren der Pisa-Sonderauswertung loben den mit 86 Prozent hohen Anteil an Mehrsprachigen, die angeben, zwei oder mehr Sprachen zu beherrschen. Im OECD-Schnitt sind es 68 Prozent. Dies stehe in einem engen Zusammenhang "mit globalen und interkulturellen Einstellungen", heißt es.

Wenig Initiative, selber aktiv zu werden

Schwächer ausgeprägt ist indes die "agency" der Jugendlichen - das Bewusstsein, aktiv etwas für die nachhaltige Entwicklung und das kollektive Wohlergehen zu bewirken. Die weltweit befragten Schülerinnen und Schüler konnten zwischen acht Aktivitäten wählen. Bei den dreien, die in Deutschland am häufigsten genannt wurden, steht das Energiesparen zu Hause oben: 65 Prozent bemühen sich darum, weniger als im OECD-Mittel von 71 Prozent.

Sich in den sozialen Medien über das Weltgeschehen zu informieren, zählt ebenfalls dazu: Das tun in Deutschland 45 Prozent, OECD-weit sind es 64 Prozent. Aus "ethischen oder Umweltgründen" bestimmte Produkte zu bevorzugen, geben 39 Prozent an (OECD: 45 Prozent).

Unter den am seltensten genannten Aktivitäten für das Wohl der Welt ist das aktive Eintreten für Geschlechter-Gerechtigkeit (20 Prozent in Deutschland, OECD: 33 Prozent) und das Unterzeichnen von Petitionen zu sozialen oder Umwelt-Themen (16 versus 25 Prozent).

Es gelinge den Schülerinnen und Schülern hierzulande gut, sich in der vernetzten und von kultureller Diversität geprägten Welt zurechtzufinden, resümiert Kristina Reiss. "Wir stellen aber auch fest, dass sie ihr Wissen und ihre Einstellungen noch wenig in Handlungen umsetzen."

Eine mögliche Interpretation dafür sei, "dass ein hohes Verständnis für die Komplexität der globalen Probleme eher zu der Einschätzung führt, dass man als Individuum wenig zur Lösung beitragen kann".

Ein Fragebogen, den Lehrkräfte beantworteten, zeigt: Nur zehn Prozent wurden in interkultureller Kommunikation ausgebildet und nur zwölf Prozent haben Methoden gelernt, um kulturell diverse Gruppen zu unterrichten. „Die Lehramtsausbildung sollte interkulturelle Kompetenzen deutlich stärker berücksichtigen“, fordert Reiss. Und sie sollte durch Auslandssemester internationaler werden.

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