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Die Schöninger Speere gelten als die mit Abstand ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Menschheitsgeschichte.

© dpa/MINKUSIMAGES

Jagdwaffen der Neandertaler: Wie alt sind die Schöninger Speere?

Vor rund 200.000 Jahren erlegten Neandertaler im heutigen Deutschland Pferde, Nashörner und Rentiere. Haben sie dabei Waffen wie die berühmten „Schöninger Speere“ benutzt? Um deren Datierung ist nun ein wissenschaftlicher Streit entbrannt.

Von Walter Willems

Stand:

Mit einem angenommenen Alter von 300.000 Jahren gelten die Schöninger Speere als die mit Abstand ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Menschheitsgeschichte.

Nun berichtet ein internationales Forschungsteam nach der ersten direkten Datierung von Material aus der Fundschicht, die in Niedersachsen gefundenen hölzernen Waffen seien tatsächlich „nur“ etwa 200.000 Jahre alt. 

Damit passten die Funde auch besser zu den Erkenntnissen über das Leben und die Jagdstrategien der damaligen Neandertaler, betont Studienleiter Olaf Jöris vom Monrepos-Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution in Neuwied. Doch unabhängige Fachleute melden Zweifel an.

Fundstätte könnte Weltkulturerbe werden

Die Fundstätte in einem Tagebaurevier bei Helmstedt gilt seit den 1990er Jahren als archäologische Sensation – und könnte sogar Weltkulturerbe werden: Unter den Gegenständen sind neben Dutzenden Werkzeugen mindestens 20 Jagdwaffen – darunter mindestens zehn Speere, die bis zu 2,5 Meter lang sind.

Die Funde zeigen, dass die damaligen Bewohner bereits sehr versiert Waffen und andere Werkzeuge aus Holz fabrizieren konnten. Auffällig sei zudem, dass die Fundschicht sehr viele Pferdeknochen enthielt – insgesamt von mehr als 50 Tieren, schreibt die Gruppe um Jöris im Fachjournal „Science Advances“.

Speere und Wurfhölzer von der Fundstelle Schöningen wurden für die Jagd auf Groß- und Kleinwild verwendet (Fragmente zeichnerisch ergänzt).

© Fotos: Volker Minkus, Matthias Vogel. Grafik: Dirk Leder (Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege)/Volker Minkus, Matthias Vogel

Ursprünglich war das Alter der Fundschicht auf 400.000 Jahre geschätzt worden, später wurde es auf 300.000 Jahre revidiert. Allerdings basierten diese Angaben auf Altersschätzungen der darüber und darunter liegenden Ablagerungen – aber nicht von jener Schicht, aus der die Speere tatsächlich stammten, betont das Team um Jöris.

Mit seinem hohen Alter habe Schöningen im Vergleich zu anderen ähnlichen Fundorten stets als Ausreißer gegolten. „Unser Datierungsresultat korrigiert diese Diskrepanz“, heißt es nun.

Das Forschungsteam bestimmte das Alter der Fundschicht – des sogenannten Speer-Horizonts – nach eigener Darstellung erstmals direkt, und zwar mit einem biochemischen Analyseverfahren: Die sogenannte Aminosäure-Datierung (Aminosäure-Racemisierung) bestimmt das Alter einer Probe anhand der Struktur von Molekülbindungen.

Forscher halten ihre Methode der Datierung für „sehr sicher“

Das Probematerial entnahmen die Forscher aus ausgegrabenen Sedimentblöcken, die kleine Süßwasserschnecken der Gattung Bithynia enthalten. Von diesen analysierten sie die Verschlusskapseln (Opercula), in denen sich Aminosäuren über Jahrtausende erhalten. Weitere Proben aus Pferdezähnen und den Schalen kleiner Muschelkrebse bestätigten das Alter von etwa 200.000 Jahren.

Jöris hält diese Datierung für „sehr sicher“. Das im Vergleich zu früheren Datierungen deutlich jüngere Alter schmälere die Bedeutung der Fundstätte keineswegs, betont die Forschungsgruppe. Der nun gefundene zeitliche Kontext ermögliche aber ein neues Verständnis der Funde. Denn vor 250.000 bis 200.000 Jahren – so heißt es – hätten Neandertaler-Gruppen damit begonnen, gemeinschaftlich bestimmten Tiergruppen nachzustellen.

Nashornjagd in Thüringen

In Schöningen hatten es die Bewohner demnach – zumindest im ausgegrabenen Bereich – vor allem auf Pferde abgesehen, im thüringischen Taubach waren es Nashörner, in Lebenstedt bei Salzgitter Rentiere. In Schöningen nutzten die Verbände das damalige Seeufer, um Pferden aufzulauern, sie zu töten und zu schlachten – „immer nach dem gleichen Schema“, wie Jöris betont. 

Die Befunde wiesen auf eine bessere Kooperation der Neandertaler bei der Jagd hin, sagt der Forscher. Das sei erfolgversprechender gewesen und mit weniger Risiko für Einzelne verbunden.

In der Folge sei die Lebenserwartung dieser Menschen gestiegen. Ab jener Zeit vor grob 200.000 Jahren, so der Archäologe, finde man bei Neandertaler-Überresten gehäuft Hinweise auf ein höheres Alter – weit jenseits von 40 Jahren.

Zweifel an neuer Datierung

Thomas Terberger von der Universität Göttingen bewertet die neue Datierung mit Skepsis. „Es handelt sich um einen spannenden Beitrag zur Datierungsdiskussion“, betont der Archäologe. „Aber für mich ist diese Frage offen.“ Das Team räume in seinem Fachartikel selbst ein, dass das Datierungsverfahren experimentell sei. 

Darauf verweist auch die Geologin Jutta Winsemann von der Universität Hannover. Zwar sei es möglich, dass der Speer-Horizont jünger sei als 300.000 Jahre, und die Arbeit leiste einen wichtigen Forschungsbeitrag. Allerdings enthalte die Studie einen großen Schwachpunkt: Sie gehe von einem alten und nachweislich falschen geologischen Ablagerungsmodell aus – und benutze dieses, um das neue Alter zu bestätigen. 

Experte rechnet mit hitzigen Diskussionen

Der Datierungsexperte Tobias Lauer von der Universität Tübingen hält das Vorgehen der Gruppe um Jöris für schlüssig und sinnvoll. Allerdings sei das angewandte Verfahren keine direkte Datierung, sondern die Daten müssten kalibriert werden anhand ähnlicher Resultate, die von vergleichbaren Orten stammten, deren Alter gesichert ist. Denn wie sich die Struktur der Molekülbindungen in den Proben entwickle, hänge von äußeren Faktoren ab, insbesondere der Temperatur.

„Ich bin mir sicher, dass das noch nicht das letzte Wort ist“, sagt Lauer zu der Studie. „Dieses Resultat wird mutmaßlich nicht von allen Fachleuten akzeptiert werden.“ Der Experte rechnet mit hitzigen Diskussionen, gerade wegen der überragenden Bedeutung der Fundstätte. 

Lauer selbst will demnächst vor Ort Untersuchungen der verschiedenen Sedimente vornehmen – per sogenannter Optisch Stimulierter Lumineszenz (OSL). Dieses Verfahren gibt Auskunft darüber, wann einzelne Mineralien zuletzt dem Sonnenlicht ausgesetzt waren.

Unabhängig davon, ob die Schöninger Speere 200.000 oder 300.000 Jahre alt sind: Die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen der Welt seien sie auch weiterhin, betont Studienleiter Jöris. Die generell älteste erhaltene, hölzerne Jagdwaffe der Welt ist demnach eine Lanzenspitze, gefunden in Clacton-on-Sea in Südostengland: Sie ist tatsächlich etwa 400.000 Jahre alt. (dpa)

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